Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
zu den Hüften hinunterschieben konnte. Ich wand mich heraus, der Reißverschluss hinterließ eine Spur aus rosigen Kratzern auf meiner Haut. Ich presste mir den Stoff vor den Mund und schrie.
Nebenan hörte ich die beherrschte Stimme meiner Mutter. Als ich herauskam, packte die Verkäuferin gerade eine langärmelige, hochgeschlossene Spitzenbluse und einen korallenroten Rock ein, der mir bis zu den Knöcheln reichen würde. Amma funkelte mich mit geröteten Augen an, ging nach draußen und wartete neben dem Wagen.
Als wir nach Hause kamen, wartete Alan in trügerischer Lässigkeit an der Tür, die Hände in den Taschen seiner Leinenhose. Adora flatterte an ihm vorbei zur Treppe.
»Wie war dein Ausflug?«, rief er ihr nach.
»Grauenhaft«, wimmerte meine Mutter. Von oben hörte ich ihre Tür zuschlagen. Alan sah mich stirnrunzelnd an und ging meiner Mutter nach. Amma war bereits verschwunden.
Ich ging in die Küche, zur Besteckschublade. Wollte mir einfach nur die Messer anschauen, die ich früher gegen mich selbst gerichtet hatte. Ich würde mich nicht schneiden, mir nur den scharfen Druck gönnen. Ich spürte schon, wie sich die Messerspitze sanft gegen die weichen Polster meiner Fingerspitzen legte, spürte die köstliche Spannung unmittelbar vor dem Schnitt.
Die Schublade ließ sich nur ein kleines Stückchen öffnen. Meine Mutter hatte sie gesichert. Wieder und wieder zog ich daran. Hörte das silberne Klirren, als die Klingen aneinander stießen. Wie meckernde Fische aus Metall. Meine Haut war heiß. Gerade wollte ich Curry anrufen, als die Türklingel höflich läutete.
Ich spähte um die Ecke der Veranda und entdeckte Meredith Wheeler und John Keene.
Mir war, als hätte mich jemand beim Masturbieren ertappt. Ich öffnete die Tür, biss mir dabei von innen auf die Wange. Meredith kam mit wiegendem Schritt herein, musterte die Räume, brach in pfefferminzduftende Entzückensrufe aus und verströmte ein schweres Parfüm, das besser zu einer Dame der Gesellschaft als zu einem Teenager in grün-weißem Cheerleadertrikot gepasst hätte. Unsere Blicke begegneten sich.
»Schon gut, schon gut. Die Schule ist vorbei. Eigentlich trage ich die Sachen zum letzten Mal. Wir bereiten die Mädchen fürs nächste Jahr vor. Eine Art Übergangsritual. Sie waren doch auch Cheerleader, oder?«
»Ja, kaum zu glauben.« Ich war nicht sonderlich begabt gewesen, machte mich aber gut im Röckchen. Damals schnitt ich mich nur in den Oberkörper.
»Das glaube ich gern. Sie waren das hübscheste Mädchen der Stadt. Mein Cousin war drei Klassen unter Ihnen, Dan Wheeler. Er hat ständig von Ihnen erzählt. Hübsch und klug, und so nett. Er würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich es Ihnen erzähle. Wohnt jetzt in Springfield. Ist aber nicht verheiratet.«
Ihr einschmeichelnder Ton erinnerte mich an die Mädchen, in deren Gegenwart ich mich nie wohlgefühlt hatte, die eine künstliche Kumpelhaftigkeit verbreiteten und Dinge erzählten, die nur enge Freundinnen etwas angingen. Sie heirateten meistens Männer, die gerne grillten, als Pharmavertreter arbeiteten oder beides.
»Das ist John«, sagte sie unvermittelt, als hätte sie ihn gerade erst entdeckt.
Zum ersten Mal sah ich ihn aus der Nähe. Er war wirklich schön, beinahe androgyn, groß und schlank, mit unanständig vollen Lippen und eisblauen Augen. Er schob sich eine dichte dunkle Strähne hinters Ohr und lächelte auf seine ausgestreckte Hand hinunter, als wäre sie ein Haustier, das einen tollen Trick vollführt hat.
»Wo wollt ihr beide euch unterhalten?«, fragte Meredith. Ich wäre sie gerne losgeworden, weil ich fürchtete, dass sie im falschen Augenblick losplappern würde, aber John schien ihre Gesellschaft zu brauchen, und ich wollte ihn nicht verschrecken.
»Setzt euch ins Wohnzimmer«, sagte ich daher. »Ich hole Eistee.«
Zuerst legte ich eine neue Kassette in meinen Minirekorder ein, lief dann die Treppe hinauf und lauschte an Adoras Tür. Stille, nur ein Ventilator surrte. Schlief sie? Falls ja, hatte Alan sich neben sie gelegt, oder wartete er auf ihrem Frisierhocker? Selbst nach all den Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, wie ihr Intimleben aussah. Als ich an Ammas Zimmer vorbeikam, sah ich sie wohlerzogen auf der Kante eines Schaukelstuhls sitzen, in der Hand ein Buch mit dem Titel
Griechische Göttinnen
. Seit ich hier war, gab sie abwechselnd die heilige Johanna, Blaubarts Frau oder Prinzessin Diana – lauter Märtyrerinnen, wie mir
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