Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
hat sie ihre eigene Sprache erfunden. Bei anderen Kindern wäre es nur sinnloses Zeug gewesen, aber Natalie hatte sich ein ganzes Alphabet ausgedacht. Sah aus wie Russisch. Und sie hat es mir sogar beigebracht. Hat’s jedenfalls versucht. Aber sie verlor bald die Geduld mit mir.« Er lachte wieder krächzend, es klang, als säße er tief unter der Erde.
»Ist sie gern zur Schule gegangen?«
»Hm, es ist nicht einfach, wenn man neu ist, und die Mädchen hier … na ja, dass sie gemein sind, kommt wohl überall mal vor.«
»Johnny! Sie waren schlimm!« Meredith tat, als wollte sie ihn schubsen, doch er beachtete sie nicht.
»Ich meine, Ihre Schwester heißt doch Amma, nicht wahr?« Ich nickte. »Sie waren sogar ein bisschen befreundet. Liefen zusammen durch den Wald. Danach kam Natalie immer ganz zerkratzt und durcheinander nach Hause.«
»Tatsächlich?« Wenn ich daran dachte, mit welchem Zorn sie Natalies Namen ausgesprochen hatte, konnte ich mir das kaum vorstellen.
»Sie waren eine Zeit lang sehr eng miteinander. Aber dann hat sich Amma wohl gelangweilt, weil Natalie ein paar Jahre jünger war. Egal, jedenfalls bekamen sie Streit.« Amma hatte von ihrer Mutter gelernt, wie man Freundinnen kaltstellte. »Aber es war okay«, sagte John, als wollte er mich beruhigen. Oder sich selbst. »Es gab allerdings einen Jungen, mit dem sie häufig spielte, James Capisi. Arbeiterkind, ein Jahr jünger als sie, keiner wollte was mit ihm zu tun haben. Aber er und Natalie schienen gut miteinander auszukommen.«
»Er sagt, er habe Natalie als Letzter gesehen, bevor sie ermordet wurde.«
»Er lügt«, sagte Meredith. »Die Geschichte kenne ich. Er denkt sich ständig was aus. Überlegen Sie mal, seine Mom stirbt an Krebs. Er hat keinen Dad. Niemand kümmert sich um ihn. Also erfindet er wilde Geschichten. Glauben Sie ihm kein Wort.«
Wieder schaute ich John an, der die Achseln zuckte.
»Klingt ganz schön abgefahren. Eine verrückte Frau schnappt sich Natalie am helllichten Tag. Warum sollte eine Frau so etwas tun?«
»Warum sollte ein Mann so etwas tun?«, fragte ich zurück.
»Weiß man, warum Männer so irre Sachen machen«, meinte Meredith. »Ist sicher genetisch bedingt.«
»John, wurdest du von der Polizei befragt?«
»Ja, zusammen mit meinen Eltern.«
»Und du hast ein Alibi?« Ich erwartete eine Reaktion, doch er trank gelassen seinen Tee.
»Nein, bin nur rumgefahren. Ich muss manchmal raus hier.« Er warf einen raschen Blick zu Meredith, die den Mund verzog. »Ich bin nicht an Kleinstädte gewöhnt. Manchmal muss man sich eben verdrücken. Ich weiß, dass du das nicht kapierst, Mer.« Meredith schwieg.
»Aber ich kapiere es«, sagte ich. »Ich weiß noch gut, wie beklemmend mir diese Stadt früher vorkam. Wie muss es erst sein, wenn man von woanders hierherzieht?«
»Johnny will nur ritterlich sein«, unterbrach mich Meredith. »Er war an beiden Abenden mit mir zusammen. Er will nicht, dass ich Schwierigkeiten bekomme. Das können Sie ruhig schreiben.« Meredith balancierte auf der äußersten Sofakante, steif, aufrecht und leicht weggetreten.
»Meredith, nein«, murmelte John.
»Ich will nicht, dass die Leute meinen Freund für einen verdammten Mädchenmörder halten. Vielen Dank auch, John.«
»Falls du der Polizei die Story auftischst, wissen die nach einer Stunde die Wahrheit. Und dann stehe ich noch schlechter da. Niemand glaubt ernsthaft, ich hätte meine eigene Schwester getötet.« John ergriff eine von Merediths Haarsträhnen und fuhr sie sanft von der Wurzel bis zum Ende nach. An meiner rechten Hüfte flammte das Wort
kitzeln
auf. Ich glaubte John Keene. Er weinte in aller Öffentlichkeit, erzählte dumme Geschichten über seine Schwester, spielte mit den Haaren seiner Freundin, und ich glaubte ihm. Und konnte im Geiste hören, wie Curry sich über meine Naivität ausließ.
»Da wir gerade von Geschichten sprechen«, setzte ich an. »Ich muss euch etwas fragen. Stimmt es, dass Natalie in Philadelphia eine Klassenkameradin verletzt hat?«
John erstarrte, wandte sich zu Meredith und schien sich zum ersten Mal unbehaglich zu fühlen. Sein Mund war angespannt, sein ganzer Körper in Bewegung, und ich fürchtete schon, er würde zur Tür hinausrennen, doch dann lehnte er sich zurück und holte tief Luft.
»Super. Genau deshalb hasst meine Mutter die Medien«, knurrte er. »Es stand zu Hause in der Zeitung. Nur ein paar Absätze. Sie beschrieben Natalie als wildes Tier.«
»Erzähl mir, was
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