Cry - Meine Rache Ist Dein Tod
an die Gucklöcher dachte, durch die sie in die darunterliegenden Räume spähen konnten.
Auch in Faith Chastains Zimmer.
Roy hatte Stunden damit zugebracht, die schmalen Ritzen im Fußboden den jeweiligen Zimmern zuzuordnen und zu numerieren. Jetzt schritt Eve über diese Bretter, duckte sich unter spinnwebverhangenen Dachsparren und Querbalken hindurch und ließ den Strahl ihrer Taschenlampe umherwandern, bis sie die mit Filzstift geschriebene, von Staub und Schmutz verdeckte Zahl 307 fand.
Der Wind pfiff durch die alten Dachsparren und blies durch den brütend heißen Raum, ohne Erfrischung zu bringen.
Hier war es noch unheimlicher, als Eve es in Erinnerung hatte. Wenn sie die Augen schloss, kam es ihr vor, als könnte sie noch immer die leisen Schreie, das Wimmern, das verzweifelte Wispern gequälter Patienten hören.
Wie oft hatten sie und Roy durch genau dieses Guckloch in Faith Chastains Zimmer gespäht. Im Nachhinein war es Eve natürlich peinlich. Wie hatte sie so gedankenlos, so herzlos, so furchtbar neugierig sein können?
»Verzeih mir«, flüsterte sie, konnte jedoch der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal durch das Loch zu lugen, das die Größe einer Münze hatte und entstanden war, als in Faiths Zimmer eine Deckenlampe angebracht wurde. Eves Blick fiel genau auf den anklagenden roten Fleck auf dem Boden.
Ein Schatten legte sich über die Verfärbung.
Ihr stockte der Atem.
War sie etwa nicht allein?
Es ist nur ein Schatten, eine Lichtveränderung. Hier ist niemand.
Doch sie schluckte krampfhaft, und ihre Kopfhaut prickelte, während sie reglos verharrte und angestrengt lauschte.
Sie blinzelte.
Der Schatten war verschwunden.
Als hätte es ihn nie gegeben.
Licht, das durchs Fenster einfiel … Das war die Erklärung: Einige Fenster im Obergeschoss waren noch intakt. Wahrscheinlich hatte ein Ast im Wind geschaukelt, die Sonne verdeckt … Sie hatte den Wind hier oben durch die Dachsparren pfeifen gehört. Doch jetzt regte sich keine Brise.
Eves Arme überzogen sich mit Gänsehaut, ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.
Bring die Sache zu Ende, und dann nichts wie weg hier!
Sie beeilte sich jetzt, lief an einem Schrotthaufen aus Teilen alter Krankenbetten, Kommodenschubladen, Medizintabletts und Gott weiß was sonst noch vorbei, bis sie zu einem Schrank kam, einem alten, längst vergessenen Aktenschrank. Sie zückte erneut ihre Schlüssel, wählte den kleinsten aus und schloss die Schranktür auf.
Drinnen befanden sich alte Patientenunterlagen, verstaubt, teilweise verschimmelt, und alles roch, als sei es hundert Jahre alt. Ganz so alt waren die Akten in Wirklichkeit nicht, aber doch alt genug, dass alles hand- oder maschinengeschrieben war. Computerausdrucke gab es nicht.
Eve fragte sich, ob Roys Krankengeschichte sich unter den Papieren befand. Irgendwann war er als Patient hier eingewiesen worden, wenigstens für ein paar Monate, bevor die Anstalt geschlossen wurde. In Eves Augen war es eine Ironie des Schicksals, dass Roy, der immer die Patienten vom Dachboden aus beobachtet hatte, am Ende deren Schicksal teilte und selbst einen Zusammenbruch erlitt.
Diese Unterlagen waren jedoch älter, und sie fand eine Akte mit der Aufschrift
Chastain, Faith.
»O Gott«, entfuhr es ihr. Sie schlug den Ordner auf. Er war prall gefüllt mit Protokollen, Kurven und Beurteilungen, zu viel an Informationen, als dass Eve sie an Ort und Stelle hätte sichten können. Sie steckte den Ordner in ihren Rucksack und verdrängte den Gedanken, dass sie hier nicht nur Hausfriedensbruch, sondern auch Diebstahl beging.
Nicht zu ändern.
Wenn sie tatsächlich Faiths Tochter war, hatte sie ein Recht auf diese Informationen. Sollte sich hingegen herausstellen, dass sie nicht mit Faith Chastain verwandt war, dann wurde ihr vielleicht wenigstens etwas klarer, warum jemand sie in Beziehung zu dieser Frau und dieser Klinik setzte und weshalb ihr Vater und Roy umgebracht worden waren.
Eilig sah sie die übrigen Aktendeckel durch und erkannte ein paar Namen, die Erinnerungen wachriefen. Rich Carver … Ach, das war doch der sonderbare Junge, der immer still beobachtete, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln, bis er den Blick abwandte; dann wurde seine Miene dämonisch … Der nächste Name lautete Enid Walcott, und Eve erinnerte sich an eine zierliche Frau mit wirrem Haar und großen Augen. Merwin Anderson: ein großer Mann, der stundenlang dasaß und auf das Vogelhaus bei seinem Fenster
Weitere Kostenlose Bücher