Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
der unabhängigen Garnisonen lebten zusammengeballt in den historischen Vierteln und gingen bei Anbruch der Dämmerung nicht mehr aus dem Haus. Kowal würdigte seine Umgebung kaum eines Blickes, denn seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt den stinkenden Gruben und den noch nicht geschmolzenen Schneewehen, die er meiden wollte. Bis hierhin waren die Arbeiter offenbar noch nicht vorgedrungen. Der Winter hatte in diesem Jahr sehr viel Schnee gebracht, die Abflüsse waren längst von Dreck verstopft, sodass er mitunter den Eindruck hatte, der Jeep fahre nicht, sondern schwimme durch endlose Ströme von Schmelzwasser. Ein paarmal blieb er auch stecken. Doch wenn er ausstieg und die erschöpfte Stute vor den Wagen spannte, schafften sie es zu zweit noch immer irgendwie weiter.
Er hatte sich überlegt, Moskau auf dem gleichen Weg zu verlassen, auf dem er auch hineingekommen war. Die Riesenstadt erstreckte sich zwar selbst jenseits der Ringstraße noch über etliche Kilometer, aber dort wohnten fast nur Cowboys, Holzfäller und Jäger. Artur hatte bereits Dutzende von ihnen getroffen und war sich eigentlich sicher, dass es unter ihnen keine glühenden Anhänger des Präsidenten gab. Hauptsache, er kam unbemerkt am Turm vorbei.
Zunächst fuhr er deshalb Richtung Platz Komsomolskaja Ploschtschad, wo der Jaroslawski-, der Leningradski- und der Kasanski-Bahnhof lagen. Sobald er eine verdächtige Bewegung wahrnahm, bog er ab. Sicher, er hätte auch einen anderen Weg nehmen können, aber aus irgendeinem Grund tauchte er, als er auf die Straßensperre und den Stacheldraht traf, nicht in die Düsternis der alten Moskauer Gassen ein. Auf dem Jaroslawski-Bahnhof hatte vor drei Jahren jene Kommune der Kesselheizer gelebt, zu der Pap Rubens ihn geschickt hatte. Wie lange das her ist, stellte Artur für sich fest. Die arrogante, kämpferische Haltung, die ihn damals zum Aufbruch veranlasst hatte, war mittlerweile Schnee von gestern. Ebenso wie die Hoffnung auf den Aufbau einer Telefonverbindung zwischen den beiden Städten und auf den Einsatz von Dieselloks. Aber damals hatte er Lew allen Ernstes einzureden versucht, man bräuchte bloß ein paar Kessel im Fernheizwerk anzuschmeißen, und schon würde die Energie für die Metro reichen …
Was würde wohl geschehen, wenn ich mir Nadja schnappte und mit ihr in die Stadt zöge?, überlegte er weiter. Vielleicht nicht gerade nach Moskau, sollen die Wipper mit dieser Stadt ruhig anstellen, was immer sie wollen. Aber nach Piter … Ich muss mich ja nicht Pap Rubens anschließen, der sich auch nicht gerade durch ehrenhaftes Verhalten hervorgetan hat, sondern könnte versuchen, beim Bürgermeister unterzukommen … Ingenieure braucht man schließlich überall. Gut, ich hab ’ne Menge vergessen, aber das ist kein Beinbruch, da kann ich mich wieder einarbeiten. Wenn … wenn ich inzwischen nur nicht so sehr an das gewöhnt wäre, was der Kohlehändler Marquis als Gerechtigkeit bezeichnet hat.
Möglicherweise würde sich die Walddemokratie der Wipper ja tatsächlich nicht lange halten. Garantiert würde die Bevölkerung wieder anwachsen, dann würden die Zauberer und Wipper zu Legenden werden, vor allem da es sie mittlerweile bereits in die Stadt zog. Und dieses Vakuum, von dem Lew gesprochen hatte, würden normale Menschen mit ihrem Verstand füllen. Oder auch kleine und große Zaren mit ihren machtgeilen Allüren und ihrem unterdrückten kindlichen Ehrgeiz. Dann würde der heilige Krieg von Berder und Konsorten nur noch in ihrem Buch stattfinden. Oder noch nicht mal da. Denn Menschen wie Karim verbrennen zu gern Bücher. Aus den ehrenhaftesten Motiven, versteht sich.
Dann riss das Pfeifen einer Kugel Kowal aus seinen trüben Gedanken. Irgendwo in der Ferne feuerte jemand ein MG ab, die Salve schoss hoch über seinem Kopf hinweg. Ob noch nicht alle begriffen haben, dass die Kämpfe vorbei sind?, fragte er sich. Denn auch Moskau war ja nicht von Erschütterungen verschont geblieben. Das Hotel Leningrad erstrahlte zum Beispiel mit etlichen Lichtpunkten über ansonsten toten Ruinen, fast wie ein Ozeandampfer auf dem kalten Meer. O nein, das sind keine versprengten Kämpfer alter Tage, begriff Artur, das gilt mir. Warum habe ich bloß nicht die Sretenka genommen, die ist doch mittlerweile auch schon in ganz passablem Zustand.
Eine weitere Salve wurde abgegeben, danach war das Getrappel von Hufen zu hören. Die Jagd auf sie war eröffnet. Verzweifelt hielt Artur nach einem Fluchtweg Ausschau.
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