Cugel der Schlaue
Ästen der Trauerweiden.
Unter dem Schatten des Laubwerks waren die Bewohner schwer zu sehen. Cugel erspähte sie nur, wenn sie an ihren merkwürdigen kleinen Fenstern vorüberhuschten, und mehrmals glaubte er zu sehen, daß sie auf Rampen aus poliertem, einheimischen Kalkstein die Schlundlöcher hinunterrutschten. Ihr Körperbau war der eines kleinen Menschen, ja fast Kindes, ihre Züge dagegen ließen an eine eigentümliche Kreuzung zwischen Reptil, Hängenasenkäfer und Kleingid denken. Als Kleidung über ihrem graugrünen Fell trugen sie gerüschten Bauchschutz aus hellem Fasergeflecht und Kappen mit schwarzen Ohrenklappen, offenbar aus Menschenschädeln hergestellt.
Auf Cugel machten diese Leutchen nicht den Eindruck, daß sie ihn gastlich aufnähmen, und er hielt es für klüger, sich davonzustehlen, ehe sie ihm nachstellen würden. Je tiefer die Sonne sank, desto nervöser wurde Cugel. Des Nachts durfte er nicht weiterwandern, wollte er nicht in ein Schlundloch stürzen. Versuchte er dagegen, in seinen Umhang gehüllt, im Freien zu schlafen, mochte er ein Opfer der Vispen werden, die neun Fuß groß waren, mit rosa Leuchtaugen durch die Nacht spähten und mit zwei Rüsseln, links und rechts ihres Kopfkamms, Fleisch witterten.
Der untere Rand der Sonnenscheibe berührte bereits den Horizont. In seiner Verzweiflung brach Cugel ein paar Zweige eines Knisterbusches ab, die als Fackeln gut geeignet waren, und ging auf ein Schlundloch zu, wo er sich einen Baumturm erwählte, der ein wenig abseits von den anderen stand. Beim Näherkommen sah er wieselgleich Gestalten an den Fenstern hin und her eilen.
Er zog sein Schwert und hämmerte auf die Plankenwand. »Ich bin es, Cugel!« donnerte er. »Der König dieser armseligen Öde! Wie kommt es, daß keiner von euch seinen Zehnt gezahlt hat?«
Aus dem Innern wurden schrillstimmige Beschimpfungen laut, und Unrat flog aus den Fenstern. Cugel zog sich ein Stück zurück und zündete einen seiner Knisterbuschzweige an. Empörte Schreie erklangen hinter den Wänden, und gewisse Bewohner des Baumturms rannten über Äste der Trauerweide und rutschten hinunter in das Wasser des Schlundlochs.
Cugel hielt wachsam auch hinter dem Rücken Ausschau, um zu verhindern, daß irgendwelche der Geschöpfe sich von hinten anschlichen und ihm auf den Rücken sprangen. Wieder hämmerte er mit dem Schwertknauf an die Wände. »Genug der Abfälle und des Schmutzes! Zahlt sofort tausend Terces, oder verlaßt den Bau!«
Aus dem Innern war nunmehr nur noch Wispern und Zischeln zu vernehmen. Wachsam nach allen Richtungen schauend, ging Cugel vorsichtig um den Baumturm herum, bis er eine Tür fand. Er streckte seine Fackel hinein und sah einen Werkraum vor sich, mit einer polierten Kalksteinbank an einer Wandseite. Auf der Bank standen Kannen, Becher und Schüsseln aus Alabaster. Es gab weder Herd noch Kamin, denn die Baumturmbewohner scheuten das Feuer, noch war eine Verbindung zu den oberen Stockwerken – wie Leitern, Treppen oder Falltüren – zu sehen.
Cugel ließ seine Knisterbuschzweige und die brennende Fackel auf dem Lehmboden des Werkraums zurück und machte sich daran, weiteres Brennholz zu holen. In dem pflaumenfarbigen Nachglühen des Abendrots sammelte er vier Armvoll Reisig und trockene Äste, die er zu dem Baumturm schleppte. Als er mit dem letzten Armvoll zurückkehrte, hörte er erschreckend nahe den schwermütigen Ruf eines Vispen.
Cugel überschlug sich nun schier in seiner Eile, die Behausung zu erreichen. Wieder beschimpften ihn die empörten Bewohner, und schrille Schreie echoten von den Wänden des Schlundlochs.
»Ruhe, Geschmeiß!« brüllte Cugel. »Ich brauche meinen wohlverdienten Schlaf!«
Niemand kümmerte sich um seinen Befehl. So holte Cugel seine Fackel aus dem Werkraum und schwang sie in alle Richtungen. Sofort verstummte der Lärm.
Cugel kehrte ins Innere zurück und versperrte die Tür mit einer schweren Kalksteinplatte, die er mit einer Stange festklemmte. Dann richtete er das Feuer so, daß es langsam, ein Zweig nach dem andern, brennen würde. In seinen Umhang gehüllt, streckte er sich zum Schlafen aus.
Während der Nacht stand er ein paarmal auf, um nach seinem Feuer zu sehen, zu lauschen und durch einen Spalt über das Schlundloch zu spähen. Aber alles war ruhig, von den Schreien herumstreifender Vispen abgesehen.
Bei Sonnenaufgang erhob Cugel sich. Durch die verschiedenen Spalten schaute er ins Freie, doch nichts Ungewöhnliches war zu sehen
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