Cupido #1
dem, das, laut ihrem Mandanten, hätte da sein müssen. Noch ein blinder Fleck. Lourdes war so weit, dass sie ihrem eigenen Urteil, was Menschen anging, nicht mehr traute.
Sie trank das erste Glas in einem Zug aus, den Blick immer noch auf die schrecklichen Fotos gerichtet. Wo war die Gerechtigkeit für Anna Prado? Wo war die Gerechtigkeit für ihren Mandanten, den zu verteidigen sie so ehrgeizig geschworen hatte? Was zum Teufel bedeutete Gerechtigkeit überhaupt noch?
Heute hatte sie als seine Anwältin versagt. Sie hatte den Cop bereits in der Falle, doch dann hatte sie aufgehört. Sie hatte aufgehört, weil sie wusste, dass ihr Mandant ein Vergewaltiger war. Er hatte im selben Moment im Gerichtssaal sein Opfer mit Blicken durchbohrt, ohne Reue und ohne Mitleid. Als sie den Hass und die Verachtung in seinen Augen sah, wusste sie, dass er es wieder tun würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Und sie konnte es nicht zulassen, dass sie diejenige war, die es ihm ermöglichte. Sie, die sich für die Rechte der Frauen in der kubanischen Gemeinde einsetzte. Sie war sogar im Vorstand von La Lucha, einem Verein, der Opfern von Gewalt in der Ehe half, ihnen Sicherheit und Schutz vor ihren Schändern bot. Wie konnte sie von sich selbst behaupten, dass sie für die Rechte der Frauen eintrat, und im nächsten Atemzug ihre Fähigkeiten dafür nutzen, einen brutalen Vergewaltiger auf freien Fuß zu setzen? Sie hatte den Schaden, den er einem Opfer zugefügt hatte, aus erster Hand gesehen; wer weiß, was er dem nächsten antun würde.
Lourdes trank den nächsten Whiskey, und das zweite Glas ging schon viel besser runter. Es war leichter zu schlucken, brannte nicht mehr ganz so stark. Vielleicht gab es da ja eine Parallele zu der Farce, an der sie hier teilnahm. Vielleicht würde ab jetzt jeder Schritt leichter werden. Wenn sie dabei half, ihren Mandanten in die Todeszelle zu bringen. Vielleicht brannte es dann weniger, wenn sie zusah, wie ihm die Spritze angelegt wurde. Eine Komplizin im Mord an ihrem eigenen Mandanten.
Denn dass er ein Killer war, glaubte sie wirklich nicht. Und sie wusste, dass sie ihn freibekommen konnte, dass sie ihn schon heute freibekommen hätte. Sie wusste von dem merkwürdigen anonymen Tipp, der am 19. September beim Miami Beach Police Department einging. Letzten Monat im Clevelander hatte der dämliche Cop ihrer Praktikantin alles erzählt: Er war besoffen gewesen und auf eine schnelle Nummer aus. Lourdes wusste genau, warum er den Jaguar in Wirklichkeit angehalten hatte, auch wenn Chavez beschlossen hatte, jetzt ein anderes Lied zu singen. Er dachte, er könnte einfach abstreiten, was er in der Bar erzählt hatte, so tun, als hätte er nie was gesagt. Aber so einfach war das nicht.
Sie betrachtete die Kassette, die sie nach jenem Abend vom Miami Beach Police Department angefordert hatte. Auf dem Etikett stand 19.09.2000 20:12. Routinemäßig wurden die Polizeiruf–Mit–
schnitte dreißig Tage aufbewahrt, dann wurden sie gelöscht. Glücklicherweise hatte Lourdes ihre Kopie am neunundzwanzigsten Tag erhalten.
Der Whiskey wirkte. Sie fühlte sich leichter, ein bisschen schwindelig und viel besser. Lourdes betrachtete die Fotos von Anna Prado und goss sich ein drittes Glas ein.
Diesmal lief es ihr ganz leicht die taube Kehle hinunter.
64.
Er sah zu, wie sich die Szene im voll gepackten Gerichtssaal vor ihm abspielte. Es war sogar noch besser, als er gehofft hatte. Wie im Theater gingen die verschiedenen Darsteller aufeinander ein, spielten miteinander. Emotionen kochten hoch, die Spannung war so dicht, dass man sie hätte in Würfel schneiden können. Der atemlosen, Nägel kauenden Menge um ihn herum fehlte nur noch das Popcorn; die Zuschauer knipsten wie Billigtouristen, während sie das Schauspiel genossen. Und er war einer von ihnen. Das Spiel, das er in Gang gebracht hatte, entwickelte sich prächtig, mit all seinen Nebenzweigen, und die Spannung, wie es ausginge, brachte ihn fast um.
Doch er brauchte mehr. Seit Monaten hatte er sich schon zurückgehalten, und er merkte, länger konnte er nicht warten. Das Gefühl in seinem Kopf war wie das eines Wüstenbewohners auf der Suche nach Wasser. Ein unstillbarer Durst, das Schmachten nach Leben. Nach Tod.
Doch er durfte das Schauspiel, das sich entwickelt hatte, nicht gefährden, indem er die Schuld des Schuldigen in Frage stellte. Er musste sich von dem verabschieden, was die Polizei seinen Modus Operandi nannte. Es würde
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