Curia
aus Lügen zu leben?«
»Können Sie sich eine Welt ohne Lügen vorstellen? Ganz schön langweilig. Lügen erzeugen Träume, St. Pierre, und der Mensch lebt von Träumen. Erzählen Sie ihnen was von Unsterblichkeit, und die Leute werden an jeden Blödsinn glauben außer an die Wahrheit. Der Mieter des Palastes am Petersplatz hat das seit zweitausend Jahren begriffen.«
»Nur wenn er sich der Wahrheit über seine Ursprünge stellt, wird der Mensch sich selbst entdecken und ein für alle Mal von den Gespenstern der Religion befreien.«
»Sagen Sie mal, hat Ihnen vielleicht irgendein Priester, als Sie klein waren, im Religionsunterricht eine Ohrfeige verpasst? Suchen Sie nach dem Mörder Ihres Bruders, oder ist das ein Kreuzzug gegen die Religion?«
Théo stellte sein Glas auf das Tischchen. »Werfen Sie mir etwa vor, dass ich das Andenken meines Bruders verrate?«
»Ich werfe Ihnen gar nichts vor. Ich stelle Ihnen lediglich eine Frage.«
»Die Sache betrifft nur mich allein. Nun, wie lautet Ihre Antwort?«
»Was kann ich Ihnen anderes antworten, ohne den Papyrus? Aber das esoterische Geheimnis, von dem Sie sprechen, interessiert mich, und zwar sehr.«
»Mich interessiert der Papyrus.« Théo erhob sich. »Und zwar sehr.«
»Wenn ich den Papyrus hätte und wenn Sie Ihren Kreuzzug für die Wahrheit aufgeben würden, würde ich wahrscheinlich über Ihren Vorschlag nachdenken.«
»Warum sagen Sie das nicht dem Dieb, wenn Sie ihn treffen?«
»Ich werde daran denken«, sagte Kassamatis, während er aufstand. »Wer weiß, vielleicht begegne ich ihm im Kafenion unten in Evdilos.« Er ging zur Brüstung. »Wenn ich dieses Panorama sehe«, sagte er, zum Horizont blickend, »begreife ich, warum Ikarus versuchte, bis zu den Göttern zu fliegen.«
»Vergessen Sie nicht, dass Ikarus ein böses Ende nahm.« Théo stützte sich mit den Armen auf das Geländer der Terrasse.
»Das sind die Risiken großer Unternehmungen.«
Théo betrachtete ihn verstohlen. Dieser Ton war eine Einladung. Sollte er es nicht noch einmal versuchen?
»Lohnen sie dann die Mühe? Ich war mir sicher, dass einer wie Sie nur kalkulierbare Risiken eingeht.«
»Ich und kalkulierbare Risiken?« Kassamatis grinste. »Ich will Ihnen etwas erzählen. Von meiner zweiten Frau habe ich eine Tochter, Vania.«
Vania sei sein Lieblingskind, vielleicht weil sie ihn von allen seinen Kindern am besten verstehe. Mit sechzehn habe sie ihm eine silberne Plakette geschenkt, in die sie ein Zitat aus dem Gedicht The Road Not Taken des amerikanischen Lyrikers Robert Frost hatte gravieren lassen. Es sei das schönste Geschenk gewesen, das er je erhalten habe, und die Platte stehe immer auf seinem Schreibtisch.
Staunend hörte Théo zu. Wer war Kassamatis wirklich? Ein kühler Rechner oder ein Mann, der an unmögliche Träume glaubte? War er selbst denn anders?
»Kennen Sie dieses Gedicht?«, fragte Kassamatis.
»›Two roads diverged in a yellow wood …‹«, zitierte Thèo, mit den Augen dem Flug einer Möwe folgend. »›I took the one less traveled by. And that has made all the difference.‹«
»Sehen Sie? Es lohnt sich immer, St. Pierre«, sagte Kassamatis, dessen Augen vor Begeisterung funkelten. »Sie wissen es genauso gut wie ich. Und die Tatsache, dass Sie diese Verse auswendig kennen, ist der Beweis.«
Diese Worte, sein Blick und der Tonfall zerstreuten den letzten Zweifel. Er war der Dieb. Aber wie brachte er ihn dazu, es zuzugeben? Dabei lechzte der Mann doch danach, es ihm ins Gesicht zu sagen. Man musste nur noch die geeignete Gelegenheit schaffen. Doch wie? Da fielen ihm die Artikel über Kassamatis und Gastons Witzeleien ein.
»Ich habe gelesen, dass Sie gern gut essen und dann Sirtaki tanzen«, sagte Théo.
Kassamatis Miene hellte sich auf. »Und ob.« Er umfasste Théos Arm. »Heute Abend biete ich Ihnen ein Fest, das Sie nicht vergessen werden, einen Abend für richtige Männer. Ohne Champagner, wohlgemerkt. Ich lade Sie ein, in der Taverne meines Freundes Lazarus mit mir zu essen.«
Als Théo und Kassamatis die Taverne betraten, zogen sie alle Blicke auf sich. Ein kräftiger Mann, der Lazarus sein musste, kam ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Der Wirt und Kassamatis umarmten sich schulterklopfend.
Lazarus führte sie an ihren Tisch und kehrte gleich darauf mit der Speisekarte und einer Flasche Ouzo zurück.
» Jámas «, sagte Lazarus, nachdem er die Gläser gefüllt hatte. Kassamatis und Théo standen auf. » Jámas «,
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