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Cut

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Titel: Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kroeger
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    Er taumelt und fällt in die Unschärfe.
    Die Musik endet auf einem dissonanten Akkord.

36 Angst
    Charlotte war durch ein leises Geräusch aufgewacht. Ihr Schlaf war leicht, seit sie ihren Vater zu Tode gepflegt hatte. Und jetzt war sie noch empfindlicher geworden, wo Ludwig sich nachts immer hin und her warf, stöhnte und Worte von sich gab, die keinerlei Sinn ergaben. Selbst das fehlte ihr in den letzten Tagen. Das Haus war so still, dass das scheppernde Schlagen der alten Standuhr zur vollen Stunde unerträglich in ihren Ohren dröhnte. Aber die Uhr war es nicht gewesen. Die leuchtende Anzeige ihres Weckers stand auf Viertel vor zwei.
    Vorsichtig setzte sie sich im Bett auf. Ihr Herz schlug so laut, dass sie nicht mehr sicher war, ob sie nicht davon aufgewacht war. Vielleicht war es auch der Wind, der manchmal durch die Ritzen des alten Hauses pfiff. Wenn sie zusammenzuckte, zog Ludwig sie jedes Mal mit der Bemerkung auf, das seien die Windgeister vom Amazonas.
    Nach dem Krieg hatte er fast ein Jahrzehnt in Südamerika verbracht. Sein Spezialgebiet waren die Vögel des Urwaldes. Eine Papageienart trug sogar seinen Namen.
    Charlotte konnte sich immer noch nicht entschließen aufzustehen. Sie ertappte sich dabei, dass sie wie damals als kleines Mädchen auf die Schritte ihres Vaters wartete, der jede Nacht mit der Taschenlampe einen Rundgang durch das Haus machte, bevor er zu Bett ging. Eines Nachts, es musste Anfang der Sechziger gewesen sein, wurde sein nächtlicher Rundgang durch stürmisches Klingeln unterbrochen. Charlotte hörte Männerstimmen auf dem Flur. Am nächsten Morgen saß Ludwig am Frühstückstisch, braun gebrannt und unbeholfen mit Messer und Gabel hantierend. Deutschland war ihm fremd geworden, darum hatte er seinen alten Kameraden um Hilfe gebeten. Ihr Vater nahm ihn selbstverständlich bei sich auf und besorgte ihm eine Stelle im Max-Planck-Institut. Die beiden allein stehenden Männer verbrachten viele gemeinsame Abende damit, ihren Erinnerungen nachzuhängen oder Schach zu spielen. Und auch für sie, die während des Studiums nur an den Wochenenden nach Hause kam, war er nach und nach zu einem Teil der Familie geworden. Das Zentrum ihres Universums blieb jedoch ihr Vater. Erst nach dessen Tod nahm sie den ruhigen Vogelliebhaber richtig wahr.
    Charlotte fühlte im Dunkeln ihren Puls und stellte fest, dass er schon wieder etwas langsamer ging. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon so im Bett saß, angestrengt lauschend. Plötzlich glaubte sie eine Melodie zu hören, die ihr bekannt vorkam. Der Fernseher! Welcher Einbrecher würde sich denn vor den Fernseher setzen?
    Leise stand sie auf und zog sich den Morgenmantel über. Im Wohnzimmer brannte kein Licht. Nur der Bildschirm verbreitete ein unregelmäßiges Flackern. Ludwig saß im Sessel und warf sich hin und her.
    »Nein!«, brabbelte er. »Kher! Das ist nicht wahr!«
    Sie schüttelte ihn sanft. Sofort schlug er die Augen auf und sah sie erstaunt an.
    »Du bist schon zurück? Wie war dein Kongress? Gibt es Neuigkeiten über die Flugroute der Kraniche?«
    Er schien sie nicht zu verstehen. »Was ist mit den Kranichen?«, flüsterte er heiser.
    Sie fühlte, wie die Angst ihr die Luft nahm. Sie war schließlich Ärztin und wusste, dass Schlaflosigkeit die Folge von Altersdepression sein konnte. Ludwig war stark, aber in den letzten Wochen meinte sie zu spüren, wie seine Kraft nachließ. Sie dachte an die letzten Monate mit ihrem Vater. Noch einmal würde sie das Ganze nicht durchstehen. Noch nicht.
    »Es geht so nicht weiter. Du musst schlafen. Morgen fahren wir in die Uniklinik zu einem Spezialisten«, sagte sie im Tonfall der Ärztin, die ihr Leben lang mit sturen norddeutschen Bauern zu tun gehabt hatte.
    Ludwig winkte müde ab. »Ich brauche keinen Psychoklempner«, brummte er. »Man kann sich an alles gewöhnen. Es gibt Vögel, die schlafen auch nur für wenige Sekunden am Stück.«

37 Radio
    Du steigst aus der S-Bahn und bleibst auf dem Bahnsteig stehen.
    Als Kind hast du manchmal stundenlang mit Hinnarck auf der Bank gesessen und den Zügen zugeguckt. Damals fuhren hier noch Güterzüge, manche so lang, dass es mehrere Minuten dauerte, bis sie vorbeigerattert waren. Hinnarck hat dir erklärt, dass in den Waggons Maschinen seien, die im Hamburger Hafen auf Schiffe verladen würden. Dann brachte man sie mit riesigen Lastwagen mitten in die Wüste. Schließlich kamen die Monteure und bauten mit den Maschinen eine Stadt, wo

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