Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cut

Cut

Titel: Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kroeger
Vom Netzwerk:
vorher nur Sand gewesen war. Für dich waren sie moderne Zauberer, und Hinnarck war einer von ihnen.
    Die S-Bahn fährt quietschend an. Geblendet musst du kurz die Augen schließen, als sie den Blick auf den zugefrorenen See freigibt. Die Sonne reflektiert auf dem Neuschnee von letzter Nacht, und die weite Fläche liegt da wie ein silberner Planet. Magnetisch zieht es dich zum Ufer, um deine Füße vorsichtig auf das Eis zu setzen und zu sehen, ob es dich trägt. Weg von hier.
    Weg von Emma.
    Stattdessen setzt du deine Sonnenbrille auf und trittst hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Wie eine Spielzeugeisenbahnanlage liegen die zweistöckigen Backsteinhäuser im Halbkreis um den Brunnen herum. Es ist später Vormittag. Die Kinder sind noch in der Schule, die Männer bei der Arbeit, und die Frauen bereiten das Mittagessen vor. Hinnarck müsste deinen Berechnungen nach wie jeden Freitag mit dem Auto zum Großmarkt gefahren sein, um Getränke und andere haltbare Lebensmittel für den Wochenbedarf einzukaufen.
    Langsam gehst du über den Platz. Seit eurem Streit hast du nichts mehr von Nick gehört. Du hast deine Sachen aus dem Hotel geholt und bist mit der ersten Maschine zurück nach Hamburg geflogen. London treibt wie ein surrealer Alptraum durch dein Bewusstsein.
    Zu Hause in Hamburg hast du Theresa angerufen, um nicht zu versacken. Ihr habt euch beim Portugiesen in St. Pauli Vinho Verde hinter die Binde gekippt. Dabei habt ihr, ohne euch abzusprechen, das Thema Kino erst mal ausgelassen und euch vorsichtig umkreist.
    »Nick kommt wieder. Mach dir keine Sorgen«, meinte Theresa lakonisch nach einer Kurzversion der Ereignisse in London. Später habt ihr euch gegenseitig alle schlechten Filme erzählt, in denen Kinder ihre Väter suchen, bis ihr vor Lachen aufgeben musstet. Im Nachhinein fühlt sich der Abend noch ein bisschen falsch an, aber immerhin war es ein Anfang.
    Du schließt die Haustür auf und nimmst automatisch die Sonnenbrille ab, um im Halbdunkel überhaupt etwas zu sehen. Obwohl deine Füße die steile Holztreppe in der Diele auch ohne die Hilfe deiner Augen gefunden hätten. Im Gegensatz zu früher kommt dir alles klein und eng vor, als wäre die Welt deiner Kindheit um mehr als die Hälfte geschrumpft. Du drückst dich um das Ende der Treppe in den engen Flur hinein und betrittst die Küche.
    Emma hängt wie ein nasser Sack auf ihrem Stuhl am Küchenfenster und raucht. Im Radio dudelt NDR 2. Emmas schlecht geschnittenes dünnes Haar, ihr blasses Gesicht und die Stadt im Schnee hinter ihr sind zu einer Fotografie in fahlen Grauabstufungen zusammengeschmolzen, die ab und zu durch einen gierigen Zug an ihrer Zigarette zum Leben erwacht. Selbst die wenigen Bewegungen, die sie ausführt, wirken schleppend und unkoordiniert, als würden sie all ihre Kraft in Anspruch nehmen.
    Nichts weist darauf hin, ob sie dich schon gesehen hat, wie du über den Platz gekommen bist. Los jetzt! Du räusperst dich. Langsam und mit lauten Schritten gehst du zu deiner Mutter, um sie nicht zu erschrecken.
    »Hallo, Emma! Mama!«
    Emma scheint aus einem tiefen Nebel aufzutauchen und sieht dich an. »Madita. Meine kleine Madita.«
    Ihre Stimme ist noch brüchiger geworden, sie raschelt mehr, als dass sie spricht. Du fühlst, wie die alte Hilflosigkeit wieder in dir hochsteigt. Du möchtest sie in den Arm nehmen und festhalten und gleichzeitig willst du wegrennen vor dem Strudel, in dessen Zentrum Emma sitzt und dich gnadenlos mit in die Tiefe zieht.
    Abwesend streicht sie dir über die Wange. Ihre Hand ist so kalt, dass du zurückzuckst. Automatisch tastest du nach der Heizung, aber sie läuft auf vollen Touren.
    Also gut. Du ziehst den kleinen paillettenbesetzten Holzelefanten aus der Tasche, nach dem du gestern Nacht halb betrunken deine ganze Wohnung abgesucht hast. Du hältst ihn direkt vor Emmas Nase.
    »Guck mal, Mama, das hast du mir geschenkt, weißt du noch?«
    Emma sieht dich an und lächelt. »Ja?«, fragt sie mit höflichem Interesse. Sie erinnert sich nicht. Oder sie will sich nicht erinnern.
    »Du hast gesagt, es ist von dem Inder.«
    Emmas Wangen bekommen eine Spur von Farbe. Das Spiel scheint ihr zu gefallen. »Ja? Inder? Wie schön.«
    Du sprichst weiter, laut und überdeutlich, als wäre sie schwerhörig. Du hast dir diesen Tonfall vor langer Zeit angewöhnt, obwohl du nicht sicher bist, ob du wirklich besser zu ihr durchdringst, wenn du schreist. »Der Inder hat einen Namen, Mama! Anand! Versuch dich doch

Weitere Kostenlose Bücher