Cut
gepackt.
Als Biologe wusste er ungefähr, was in seinem Körper vorging. Irgendetwas in seinem Stoffwechsel funktionierte nicht richtig und sorgte dafür, dass er kaum fünf Minuten, nachdem er eingeschlafen war, schon wieder aufwachte. Seine Neurotransmitter tobten. Er hatte es mit Alkohol probiert und mit Schlaftabletten, aber sein Körper setzte die Chemikalien anscheinend mühelos außer Kraft. Später war er dazu übergegangen, die Reiseberichte Alexander von Humboldts zu lesen, die ihn früher immer hatten wegsinken lassen wie einen Stein. Aber sobald er das Licht ausmachte, schossen die Gedanken wieder in seinem Kopf herum und entwarfen wirre Szenarien. Tagsüber musste er sich anstrengen, um die einfachsten Dinge zu erledigen. Immerzu schien ein dumpfer Schmerz seine Brust zusammenzudrücken und hinderte ihn am Atmen.
Früher hätte ihn so eine Geschichte nicht einen Moment lang aus der Fassung gebracht. Jetzt war er unsicher geworden. Und wer unsicher ist, macht Fehler.
Als er Charlotte von dem Ornithologen-Kongress erzählte, war sie es gewesen, die ihm vorschlug, sich eine Abwechslung zu gönnen. Wie eine Glucke hatte sie seine Sachen gepackt, ihm eine Thermoskanne und Brote ins Auto gelegt und ihm nachgewunken, bis er um die Ecke verschwunden war. Mehrmals wollte er umkehren, doch die dumpfe Müdigkeit hinderte ihn an einer Änderung seines Plans.
Er schreckte hoch. Manchmal schien er für Sekunden einzuschlafen, nur um dann schweißgebadet und mit rasendem Herzen wieder aufzuwachen. Was nützte es überhaupt noch, sich ins Bett zu legen?
Er griff im Dunkeln nach dem Schalter der Stehlampe. Obwohl sie nur eine schwache Birne hatte, blendete ihn das Licht, also schaltete er sie wieder aus. Stattdessen suchte er nach der Fernbedienung und drückte den Startknopf. Über den Bildschirm flackerten die alten Wochenschaubilder. Er hatte vollkommen vergessen, das Band aus dem Rekorder zu nehmen.
35 Vierter Song
Ein Trommelwirbel. Schwarzweißbilder. Indische Soldaten in Uniform stehen aufgereiht zum Appell in einem eingezäunten Areal.
Ludwig Hauser als junger Offizier kommt aus seiner Baracke. Er tritt vor die Legion.
»Soldaten der indischen Legion!« Schweiß steht auf seiner Stirn, die Stimme zittert vor Aufregung. »Sie sind keine Kriegsgefangenen mehr! Ab heute kämpfen Sie Seite an Seite mit dem deutschen Volk für den Endsieg! Und für ein freies Indien!«
»Azad Hind!«, brüllen die indischen Soldaten zurück.
Cut. Orchestermusik setzt ein, wie sie in alten Wochenschauen verwendet wird. Ludwig demonstriert, wie eine schwere Kanone funktioniert.
Cut. Deutschunterricht im Lager. Ein Sikh schreibt das Wort Disziplin an die Tafel.
Cut. Auf einer Karte zeigt Ludwig, wie die indische Legion von Deutschland aus über Russland, den Himalaya und Afghanistan nach Indien ziehen wird.
Cut. Ludwig sitzt am Steuer eines Jeeps, der gerade an einem langen Zug aus Menschen und Geschützen vorbeifährt. Ein Schild kennzeichnet die Grenze zu Frankreich.
Cut. Die Musik wechselt zu einem spannungsreichen Thema. Ein Solo für Cello, Unheil verkündend. Die Soldaten bauen unter Ludwigs Aufsicht Befestigungswälle am Atlantik.
Cut. Nahaufnahmen von murrenden Soldaten.
Cut. Nahaufnahme von Ludwigs Gesicht, auf dem die Anspannung erkennbar ist. Aus seiner Tasche zieht er ein Papier, faltet es auseinander und liest die fette Überschrift: Rückzugsbefehl.
Cut. Tumultartige Szenen. Die Inder verweigern den Dienst. Einer nach dem anderen kreuzt die Beine und setzt sich hin. Hauser geht vor ihnen auf und ab, sichtlich erregt. Das Orchester setzt aus. Trommelwirbel, wie am Anfang.
Cut. Naheinstellung. »Sofort aufstehen!«, brüllt Hauser.
Ein junger indischer Offizier neben ihm beugt sich an sein Ohr. »Man hat ihnen versprochen, gegen die Engländer zu kämpfen! Ich fürchte, sie haben zu lange darauf gewartet.«
Hauser sieht ihn ungläubig an.
Cut. Paukenschläge. Nachts in einer Baracke. Hauser schreckt aus dem Schlaf. Der indische Offizier rüttelt an seiner Schulter.
»Was?«, brüllt Hauser. »Desertiert?« Seine Hand krallt sich um den Arm des Inders, bis dieser vor Schmerz aufschreit.
Umschnitt. Die Musik variiert das Thema jetzt als Beat-Song der 60er Jahre. Das Bild wird farbig. Wieder die Hand am Arm. Im Rückzoom erkennt man dieselben beiden Männer, älter und in Zivilkleidung. Jetzt hält der Inder den Arm des Deutschen fest umklammert.
Cut auf das Gesicht des Inders. »Du!«, brüllt er. »Du
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