Cut
ja, warum hatte er davon nichts mitbekommen? Das Ganze war ziemlich beunruhigend, selbst für Nick, der von sich selbst behauptete, er sei immer offen für Experimente.
Plötzlich brach der Rhythmus ab. Cal öffnete die Schnappverschlüsse. Kopf und Arm verschwanden in der Kiste, dann tauchte er wieder auf mit einer Minidisc in der Hand.
»Für dich. Limited Edition.« Er kam auf die Kamera zu. Immer näher. Unscharf.
»Hey, was soll das?«
Nick hörte seine eigene Stimme. Und noch was. Durch die Stereokopfhörer hörte er sogar den Anflug von Panik in seiner Stimme in bestmöglicher Klangqualität.
Zehn Minuten später setzte er sich mit weichen Knien auf eine Bank und spulte genau bis an den Punkt zurück. Er klappte das Display auf und sah, wie das Sucherbild zur Seite kippte. Es zeigte einen unmöglichen schiefen Ausschnitt vom Fuß der Rolltreppe. Gesichter von Passanten tauchten auf, die den Kopf schüttelten. Ein Junge lachte. Dann kam die Kamera wieder hoch, und der Autofocus pumpte, bis die Schärfe auf der Rolltreppe lag. Cal erschien im Bild und fuhr mit seiner Kiste nach oben. Auf der Hälfte der Treppe drehte er sich um.
»Wir sehen uns!«, rief er.
Nick lächelte und spulte das Band noch mal zurück.
39 Schietkram
»Nick, hilf mir hoch, schnell!« Gerade warst du noch auf dem Harmsdorfer See. Emma lief auf Schlittschuhen vor dir her. Sie rief dir lachend Jahreszahlen zu, aber du konntest sie nicht verstehen. Plötzlich bist du ausgerutscht und über das spiegelnde, Eis geschliddert. Emma verschwand in einer Wand aus glitzerndem Weiß, das dir die Tränen in die Augen trieb, so hell war es.
Du lässt dich auf der durchgelegenen Ausziehcouch deiner Oma nach innen rollen, aber da ist kein Widerstand und du rollst gegen die Wand. Wo ist Nick? Kein Nick, stimmt ja. Nick ist dir in London abhanden gekommen. Was macht er wohl jetzt gerade?
Neben dir auf dem Boden stapeln sich Filmkataloge. Du hast offensichtlich einzelne Titel unterstrichen. Neugierig blätterst du zurück. Mal sehen, was du da ausgeklügelt hast gestern Abend! Eine Werkschau von Luis Bunuel. Keine schlechte Idee. Kommt bestimmt daher, dass du den ganzen Tag lang in die Welt deiner Oma abgetaucht bist. Das arme Dienstmädchen und die dekadente Oberklasse.
Du steigst über die Kataloge und schleppst dich mitsamt deiner Bettdecke Richtung Küche. Wasserkocher, Kaffee, Milch, Zucker. Siehst du, es geht doch. Du bewegst dich! Auf dem Küchentisch liegen die alten Kalender, die du gestern aus der hintersten Ecke des Kellers hervorgezerrt hast. Der helle Fleck an der Wand dir gegenüber verrät, wo sich die düsteren Alpenbilder mit Hirschen und Schwarzwaldhäusern Monat für Monat und Jahr für Jahr abwechselten.
Du reibst vorsichtig mit den Fingern den Staub von dem brüchigen Papier. Zum Vorschein kommen in vergilbten Farben die Kringel und Buchstaben, mit denen deine Oma ihre Termine bei den jeweiligen Putzstellen markiert hat. »K« steht für die Gräfin von Krambach, ihre liebste Arbeitgeberin, bei der sie dreißig Jahre lang geputzt hat. Einmal, als du die Ferien bei ihr verbrachtest, nahm sie dich mit nach Blankenese in die Villa an der Eibchaussee. Das Haus sah aus wie ein Museum, mit zugezogenen Vorhängen, damit die Möbel keine Sonne abkriegten. Die alte Frau mit dem Stock wanderte herum und schrie deine Oma an, weil sie fast taub war. Es war dir peinlich, die Oma auf Knien die Treppe wienern zu sehen. Danach bist du nie mehr mitgegangen.
Du räumst den ganzen Stapel zur Seite, um Platz für deine Kaffeetasse zu schaffen, und starrst weiter auf den hellen Fleck. Weiter links liegt der Kalender von 1971, den du gestern schon abgestaubt hast. Du hängst ihn an den Haken. 17. November. Büßen und Beten. Wenn Oma wüsste, was ihre Tochter stattdessen gemacht hat!
Du läufst in Richtung Freihafen und merkst, dass du schon die ganze Zeit vor dich hin summst. Du fühlst dich seltsam aufgekratzt. Es ist keine besondere Leistung, ein Wochenende allein zu verbringen, ohne ins Nichts zu fallen, sagst du dir. Trotzdem. Eine nette Melodie. Sie kommt dir bekannt vor. Weißt du eigentlich, was du da summst? Der letzte Ton bleibt dir im Hals stecken.
Ein Schiff wird kommen.
Emma hat dich angesteckt mit ihrem Fimmel. Vor dir im Wasser treibt eine aufgeplusterte Möwe auf einer Eisscholle vorbei. Genauso treibst du auch durch Emmas Welt, die nur um sich selber kreist und deren Soundtrack aus alten Platten besteht, die sie immer wieder
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