Cut
auf den zweiten Blick haut es wieder nicht hin. So wie eben, die jungen Mädchen, reiche Kinder mit silbernen Mobiltelefonen, betrachten dich als eine der ihren und rutschen zusammen, damit du einen Sitzplatz hast. Die Frauen in deinem Alter dagegen checken dich mit strengen Blicken ab. Kein Bindi, keine Armreifen, kein Ring am Finger. Zuerst hast du gedacht, es wäre Abneigung, die sich in ihren Blicken spiegelt. Aber das ist es nicht. Eher Mitleid. Jeans und kurze Haare sind in deinem Alter wohl ein Zeichen, dass du immer noch keinen abgekriegt hast. Komplizierte Sache, das.
Nick klettert mit wirren Haaren und nassem T-Shirt als Letzter aus dem Waggon nebenan. Erschöpft wankt er auf dich zu und hängt sich um deinen Hals, wo sein Schweiß sich auf deiner Haut niederlässt. An seinem Kopf vorbei siehst du, dass sich schon der nächste Zug voller Leute nähert. Bombay hat einen harten Rhythmus. Immer weitergehen, nicht stehen bleiben. Es sei denn, du stehst im Stau. Dann stehst du für immer.
In der hohen Bahnhofshalle müsst ihr kurz anhalten, um euch zu orientieren. Reisende, Gepäckstücke und Frachtgut stapeln sich zwischen den Säulen. Bewegungen und Gegenbewegungen lassen Menschenmuster entstehen wie auf einer Satellitenwetterkarte. Du spürst einen Stoß von hinten und greifst nach Nicks Arm, als ein neuer Schub fröhlicher Paradebesucher euch in eine Richtung drückt, wo sich hoffentlich der Ausgang befindet.
Als ihr endlich die enge Türöffnung hinter euch habt, schließt du geblendet die Augen. Dann öffnest du sie. Wieder zu. Auf. Noch mal.
»Das gibt’s doch nicht!« Das ist deine eigene Stimme, ganz klar. Kein Traum. Nick lehnt immer noch auf deiner Schulter. Ihr steht jetzt etwas im Abseits auf den Stufen des Bahnhofs.
»Was gibt es nicht?«
»Ich glaube, ich hab ein Déjà-vu.« So heißt das doch, wenn man plötzlich das Gefühl hat, an einem fremden Ort schon einmal gewesen zu sein. Nur dass du dich genau erinnerst, wann und wo. Ein Taxi. Ein Mann. Eine Frau mit einem Baby. Emma.
»Ich glaube eher, du hast einen Sonnenstich. Du bist ja ganz blass! Komm, wir gehen da rüber, in den Schatten.«
Nick zieht dich hinter sich her zu einem Baum in der Ecke des Vorplatzes. Deine Augen können sich nur schwer von der Szenerie losreißen. Gleichzeitig fühlst du dich beklommen und versuchst die aufsteigenden Bilder zu verdrängen. Nicht jetzt, später kannst du dich damit beschäftigen.
»Gib mir mal die Kamera!«
Nick sieht besorgt aus, aber er widerspricht nicht und greift in seinen Rucksack. »Mist, die habe ich gestern Abend bei Cal im Studio vergessen!« Sein entgeistertes Gesicht gibt dir wieder ein bisschen Bodenhaftung.
»Na, super! Jetzt haben wir endlich mal Aussicht auf Erfolg, und der Detektiv vergisst sein Handwerkszeug.« Das ist die Sprache, die Nick versteht.
»Immerhin habe ich das Buch gefunden, während du dir noch mit halb Bombay den Mund fusselig gequatscht hättest«, frotzelt er zurück.
»Poster! Poster!« Erst als er euch direkt anschreit, siehst du den Mann, der unter dem Baum sitzt. Vor sich hat er Plakate mit verschiedenen Porträts ausgebreitet. Vorsichtig ziehst du Nick zur Seite, der beinahe draufgetreten wäre.
»Nehru! Ghandiji! Netaji!« Der Mann zeigt auf seine nachkolorierten Fotos. Sie erinnern weniger an seriöse Politiker als an die Götterbilder, die sie hier vor den Tempeln verkaufen.
Nick hockt sich vor den Postern hin. »Welcher ist Bose?«, fragt er.
Der Mann, sichtlich erstaunt über den Erfolg seiner lauten Werbekampagne, zeigt auf ein pausbäckiges Konterfei in grüner Uniform mit grellrosa gefärbten Lippen. »Netaji«, flüstert er verschwörerisch, »er ist gar nicht tot. Er wird zurückkommen und Indien retten vor seinen Feinden. Nur fünf Rupien.«
Nick holt tatsächlich sein Geld raus und kauft ihm das Poster ab. Nachdem es ordentlich zusammengerollt und in Zeitungspapier eingeschlagen ist, gibt er es dir. »Hier. Das kannst du deiner Tante Charlotte und ihrem alten Heimlichtuer mitbringen. Für ihre äußerst konstruktive Mitarbeit an unserem Fall.«
Mit anderen Worten, du musst jetzt den Rest des Tages mit einem Poster von diesem Hitler-Freund in der Tasche herumlaufen. Wie gut, dass Theresa nicht da ist. Ihr Großvater wurde von den Nazis erschossen, weil er Kommunist war. Egal, was Bose für die Inder bedeutete, ihr würde das ganz und gar nicht gefallen.
Ludwig Hauser saß neben Rahul Kher auf der Ehrentribüne und starrte auf die
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