Cut
fragt.« Cals Spruch des Tages. Mehr als eine vage Andeutung – »irgendwo beim Hafen« – hat er euch nicht mit auf den Weg gegeben. Schnitzeljagd für Fortgeschrittene.
Direkt vor dem Bahnhof seid ihr mitten in die Parade zum Tag der Republik geraten. Die dicht gedrängte Zuschauermenge besteht anscheinend aus kompletten Großfamilien von der Oma bis zum Baby. Alle schreien durcheinander. Dahinter fahren irgendwo Panzer vorbei. Du kennst das Geräusch von den Manövern, die einmal im Jahr in der Nähe von Harmsdorf stattfinden. Dieses dumpfe Rumpeln auf dem Asphalt. Es macht Angst.
Nick gestikuliert in Richtung der Absperrungen, wo ein Polizist steht. Ihr drängelt euch zu ihm durch. Du schreist in sein Ohr. Er schwenkt seinen Schlagstock und brüllt: »Hafen!« Ihr kämpft euch weiter gegen den Strom der anrückenden Paradebesucher vor.
Eine alte Frau mit ihrem Enkel, dessen Haar pomadig an den Kopf geklebt ist. Er starrt Nick an und wedelt dabei unablässig mit seiner indischen Papierflagge.
Ein Kioskbesitzer, dem ihr drei Schachteln Wills abkaufen müsst, bevor er überhaupt mit euch redet.
Ein paar Seeleute, die vor einem Heuerbüro herumhängen. Sie kassieren die Zigaretten wieder ein.
Du guckst in das Buch, das Nick aufgeschlagen vor sich hält. Dann auf das Haus, das sich hinter einem hohen Zaun und ein paar schmächtigen Palmen versteckt.
»Kein Zweifel, das ist der Club«, musst du schließlich zugeben. Keiner der Leute hat die genaue Adresse gewusst. Sie haben euch immer weiter in die ungefähre Richtung geschickt und jetzt seid ihr wie durch ein Wunder hier gelandet. Magisches Indien. Du nimmst dir vor, diese Übung in Hamburg zu wiederholen, um zu sehen, was passiert.
»Und wer hatte die richtige Idee?« Nick steht die Selbstzufriedenheit ins Gesicht geschrieben. Lass dir bloß schnell was einfallen, sonst schnappt er über.
»Erstens haben wir Anand noch nicht gefunden.« Du nimmst ihm das Buch aus der Hand und stopfst es in deine Tasche zu dem Bose-Poster. »Und zweitens hast du die Kamera vergessen. Diese Aktion wird für immer undokumentiert bleiben. Was für ein Jammer.«
Du hast schon den gleichen Tonfall drauf wie Cal. Eine verwundbare Stelle suchen, den Finger drauflegen und Druck ausüben. Und es macht dir auch noch Spaß.
Nick muss ziemlich viel Kraft aufwenden, um das Eisentor aufzukriegen, dann stolziert er vor dir durch den kleinen Garten zum Eingang des Clubs.
Es gibt zwar noch keinen Plan, aber du hast vor, diesmal ziemlich fett aufzutragen. Zweifelnd betrachtest du Nicks ausgebeulte Hose von hinten. Na, mal gucken, ob es klappt.
Vor der Tür steht ein schmächtiger Junge in einer fürchterlichen Livree, der aussieht, als wäre er auch lieber auf der Parade.
»Hello, Sir, hello, Madam«, begrüßt er euch höflich auf die übliche Art. Wie jedes Mal, seit ihr in Bombay seid, fragst du dich kurz, ob er wirklich dich und Nick meint und nicht ein britisches Ehepaar um die siebenundneunzig.
Ihr wollt an ihm vorbei durch die Tür, aber er stoppt euch mit einer Bewegung seines Armes. »Nur für Mitglieder«, sagt er im selben monotonen Singsang.
Er hat euch noch nicht einmal angesehen. Das reicht, um deiner kreativen Energie den nötigen Schwung zu geben. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«, fragst du den Jungen mit der Mischung aus Autorität und Herablassung, die du in den letzten Tagen immer wieder gehört hast, wenn reiche Inder mit Rikshafahrern, Trägern oder Hausangestellten redeten.
Du solltest dich schämen, Enkelin einer Putzfrau! Natürlich funktioniert es. Der Junge sieht dich an und Nick hat einen Hustenanfall oder etwas Schlimmeres.
»Ich bin die Tochter von Kapitän Kumar! Das ist mein Verlobter. Er ist bei der US Navy.«
Nick ist ganz rot im Gesicht. Bitte nicht. Nicht alles kaputtmachen.
»Wir sind nur für zwei Tage aus Philadelphia hierher geflogen und wollen uns die Räumlichkeiten für unsere bevorstehende Hochzeit ansehen. Siehst du, Schatz« – das ist gut, du musst Nick miteinbeziehen – »ich wollte ja nicht in diesem Club heiraten, aber Daddy besteht darauf. Ich persönlich hätte das Taj vorgezogen, du nicht auch?«
Nick starrt dich an und nickt entgeistert.
Der Junge sieht verlegen zu Boden. »Madam, wenn das so ist, entschuldigen Sie bitte vielmals.« Er gibt den Weg in den Club frei und verbeugt sich.
Du weißt, dass er weiß: Wenn du dich beschwerst, ist er seinen Job los. Was du gerade gekostet hast, ist das bittersüße Aroma der Macht.
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