Cut
sitzt physisch neben dir. Sein Blick ist durch das große Fenster in einen Park auf der anderen Straßenseite geflohen, wo Angestellte im Schatten ihre Mittagspause verbringen. Wo seine Gedanken sind, weiß der Himmel. Im Zweifelsfall noch weiter weg.
Du beugst dich über die Stadtpläne. Der ältere ist eine mit der Hand gezeichnete Ausgabe von 1963. Die neue nennt sich Bombay City Map und hat eine schicke Hochglanzhülle.
»Hey, Nick!« Keine Reaktion.
Na, egal. Du brauchst ihn nicht. Beide Karten basieren offensichtlich auf denselben Skizzen. Die mit Namen gekennzeichneten Straßen machen kaum die Hälfte der gesamten Fläche von Bombay aus. Der Rest schlängelt sich namenlos durch die enge Landzunge. Deine Augen springen hin und her zwischen dem Register und den aufgerasterten Zahlen und Buchstaben. Treffer! Die ehemalige Pedder Road gehört zum alten, kartografierten Teil der Stadt. Sie hat jetzt einen Namen mit ungefähr vierzehn verschiedenen Silben.
Wie hypnotisiert starrst du durch die Frontscheibe des Taxis auf den Lieferwagen vor euch, auf dessen Rückfenster sich ein schrillgelber Schriftzug um den Gott mit dem Elefantenkopf rankt: Ganesha Enterprises Ltd. Du hast bereits alle Möglichkeiten durchgespielt, was für eine Firma sich hinter diesem Logo verbergen könnte. Du hast dir sogar eingebildet, Lord Ganesh würde dir mit seinem Rüssel zuwinken.
In der letzten halben Stunde seid ihr höchstens fünfzig Meter vorwärts gekommen. Die Welt draußen flimmert in der Hitze der Abgase. Hinten im Fonds ist Nick schon vor langer Zeit eingeschlafen und schnorchelt leise vor sich hin.
»Gopalrao Deshmukh Marg – wie weit ist es denn noch?«, fragst du den Taxifahrer.
Der Mann spuckt einen roten Saft durchs offene Fenster auf die Straße und gibt dir lächelnd die gleiche Antwort wie schon die letzten zwanzig Male. »Soon, Madam. Reaching soon.«
Ein Neubau lenkt deinen Blick von Ganesh ab. Die Spiegelfassade fängt die Sonne ein und blendet die Passanten. Sie müssen die Augen senken vor so viel Stahl und Glas. Bombay’s First Shopping Matt, Gopalrao Deshmukh Marg Branch steht in Goldlettern über dem Marmorportal.
»Aber das ist doch – wie heißt diese Straße?« Der Fahrer sieht dich verständnislos an. »Hier, wie heißt das hier?«
»Dies ist die Pedder Road, Madam«, sagt er langsam und deutlich wie zu einem Kleinkind.
Du sackst zusammen. Wozu benennen die ihre Straßen um, wenn es sowieso keinen interessiert? Du drückst dem Taxifahrer einen Geldschein in die Hand, und er nickt erfreut. Dann ziehst du Nick aus der hinteren Tür noch halb schlafend auf die Straße. Er guckt sich um wie ein verwirrter Zeitreisender.
»Hallo? Sir?«
Du hast dir einen der Wachmänner ausgesucht, die aufpassen, dass nur potenzielle Kunden die verlockende Konsumwelt unter Glas betreten. »Wissen Sie vielleicht, wo die Hausnummer 28 ist?«
»28?« Du kannst seine Augen nicht sehen, die hinter der verspiegelten Sonnenbrille ein einsames Leben führen. Mit dem Gummiknüppel in der einen schlägt er ganz leicht auf die Innenfläche der anderen Hand. »Das ist hier.«
»Aber es muss ein Wohnhaus sein, ein altes Haus!« Du hast zu viel Smog intus und deine Stimme krächzt wie eine kaputte Autoriksha. Sauerstoff ist kostbar in Bombay. Du solltest ihn sparen für Fragen, auf die du die Antwort nicht schon längst weißt.
»Nein, Madam. Die alten Wohnhäuser sind alle vor einem Jahr abgerissen worden. Aber gehen Sie doch hinein, es ist jetzt viel schöner als früher!« Er macht eine einladende Geste, mehr zu Nick als zu dir, vermutlich weil er dessen blondes Haar mit einer dicken Brieftasche verwechselt.
Du musst nachdenken und Nick muss aufwachen. Ihr seid wieder mal in einer Sackgasse gelandet. Jede Zelle deines Körpers scheint sich mit einem Mal an den Hamburger Winter zu erinnern, als ihr durch die automatische Tür tretet und euch ein eisiger Windhauch empfängt, künstlich erzeugt in den gigantischen Kühlaggregaten von Bombays erster Shopping Mall.
Nick war immer noch halb mit den Fetzen des Traumes beschäftigt, der ihn seit dem Taxi verfolgte. Er erinnerte sich dunkel, dass er wohl im Kino in Hamburg Platten aufgelegt hatte. Plötzlich ging der Vorhang vor der Leinwand auf. Darauf erschien überlebensgroß Cals Gesicht. »Nick, du hast schon wieder deinen Einsatz verpasst!«, rief er und lachte. Und die Leute drehten sich alle zu ihm um und lachten auch.
Er war irgendwie nicht gut drauf heute. Besser,
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