Cut
erste Opfer. War Anne tatsächlich das erste Opfer? Mittlerweile glaubte ich nicht mehr daran. Wie hätte der Mörder an sie herankommen sollen, wenn er bei seinem ersten Mord erst sechzehn Jahre altgewesen war, womit er in seinem Blog prahlte? Ich fasste nach dem Autoschlüssel in meiner Jeans, denn der ganze Kram zum Chambers-Mord lag noch im Wagen. Am besten ging ich bei einem anständigen Kaffee alles nochmal durch. Im Krankenhaus gab es eine Starbucks-Filiale. Ich musste lächeln, als mir einfiel, wie Rauser über den Laden gemeckert hatte, doch gleichzeitig schmerzte mich die Erinnerung an seine Witze und sein Lachen.
Das Krankenhauscafé war fast leer, es war ja noch nicht einmal fünf Uhr. Ich setzte mich mit einem extrastarken Milchkaffee an einen Tisch und breitete die Fotoalben, Briefe und Jahrbücher von Anne Chambers sowie alle anderen Unterlagen aus, die mir ihre Mutter und Mary Dailey von der Uni gegeben hatten. Ich faltete den Plan auf und fragte mich erneut, ob Anne Chambers ihrem Mörder dort auf dem Campus über den Weg gelaufen war. Unzählige Male hatte ich das Jahrbuch durchgeackert, ohne dass mir etwas aufgefallen war. Vielleicht sollte ich jede Person, die in Annes letztem Jahr an der Uni gewesen war, einzeln durchgehen. Ich stellte mir vor, wie Anne aus dem Gebäude der Kunstakademie kam und von ihrem Mörder entdeckt wurde. Weshalb wurde er auf sie aufmerksam? Hatten sie sich kennengelernt und angefreundet? Ich musste wieder an die alte Emma denken, die gesagt hatte, dass Anne sich mit jemandem traf. Aber derjenige musste es nicht gewesen sein. Oder Anne hatte ihn abgewiesen. Ein Student? Ein Professor? Vielleicht weder – noch. Es war frustrierend.
Ein Assistenzarzt in hellgrünem Kittel und Überschuhen kam ins Café. Er sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen. Er setzte sich mit einem Muffin und einem Kaffee an einen Tisch, sprang aber sofort wieder auf, weil sein Pieper losging, und ließ sein Frühstück unangetastet liegen.
Ich schickte Neil eine Mail und fragte ihn, ob er die Immatrikulationslistender Universität beschaffen könnte, und widmete mich dann wieder dem Jahrbuch der Hochschule für Kriminologie und Strafrecht. Dieses Mal schrieb ich die Namen von jeder Seite der Reihe nach ab. Auf diese Weise konnte ich mich auf jede einzelne Person konzentrieren und wurde nicht abgelenkt durch Gruppenbilder oder alberne Schnappschüsse, außerdem vergaß ich niemanden.
Es war fast halb sieben, draußen vor den Fenstern wurde es langsam hell. Nach dem zweiten Kaffee rumorte mein leerer Magen, und meine Gedanken schweiften ab zu Rauser in seinem Bett. Ich musste nur die Augen schließen, und schon sah ich ihn vor mir, jede einzelne Falte in seinem kantigen Gesicht, jede Bewegung seines Mundes oder seiner Hände, ich konnte ihn sogar riechen und hören, und mir fiel sofort ein, was er gern aß und was er verabscheute. Ich hatte ihn über die Jahre in- und auswendig gelernt. Doch allein durch meinen Willen würde er nicht gesund werden. Ich machte mich wieder an die Auflistung der Namen.
Dann sprang mir einer von ihnen förmlich ins Gesicht. Ich betrachtete das Foto, ein Gruppenbild von zwölf Doktoranden, die laut Bildunterschrift gemeinsam mit Fakultätsmitgliedern einer wissenschaftlichen Untersuchung auf dem Gebiet des Strafrechts und der Verhaltensforschung Anerkennung gewonnen hatten. Der Titel der Studie lautete:
Die biosoziologischen Ursprünge antisozialen Verhaltens.
Mein Gott, konnte das sein? Eine Flut von quälenden und unzusammenhängenden Gedanken strömte durch meinen müden Kopf. Ich betrachtete das Foto und musste an den mit Sträuchern und Palmen und Eichen bewachsenen Campus denken. Irgendwo dort hatte Anne Chambers die Person kennengelernt, die sie später mit einer Schreibtischlampe aus Messing bis zur Unkenntlichkeit zurichten und ihr dann Klitorisund Brustwarzen entfernen sollte. Ich hatte die ganze Zeit vermutet, dass dieser Campus die Geburtsstätte eines Monsters war. Die Brutalität, mit der Anne Chambers bei dem letzten Kontakt der beiden misshandelt worden war, wirkte persönlich. Die Entfernung der Brustwarzen schien
Ich hasse dich, Mami
zu sagen. Hatte Anne eine Mutter symbolisiert, die aus irgendeinem Grund verachtet wurde? In meinem Kopf ging es jetzt drunter und drüber, mir fielen tausend Dinge ein, einzelne Fragmente, die sich allmählich zusammenfügten und verdichteten. Schließlich bildete sich etwas heraus, mehr als nur eine
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