Cut
würde ich meine Zehen in ein Haifischbecken stecken. Das war natürlich einerseits der Reiz und andererseits das Grausige an dieser Arbeit.
Sie fragen sich, warum es bei David anders war, stimmt’s?
Ja, stimmt, sag’s mir. Warum war es bei David anders? Er ist ein weiterer Schlüssel zu deiner Vergangenheit, oder?
Der Mörder nannte das Opfer im Brief nur beim Vornamen. Noch ein Zeichen von Vertrautheit und Zuneigung. Echte oder symbolische?
Auch bei William LaBrecque war es anders. Haben Sie schon verstanden, weshalb?
Nein, verflucht nochmal, habe ich noch nicht verstanden. Aber in dem Moment, als ich LaBrecque am Boden liegen sah,wusste ich, dass du vor mir dort gewesen warst. Ich habe überall deine Zeichen gesehen. Warum drehst du sie um? Rauser hatte mich das auch schon gefragt. Mir fiel immer noch keine Antwort ein.
Ich holte mein Notizbuch hervor und erstellte eine neue Liste der Opfer, und zwar in der Reihenfolge, in der sie ermordet wurden. Ich zog einen Pfeil vom ersten Namen, Anne Chambers, zum letzten, William LaBrecque. Beide waren mit außerordentlicher Wut malträtiert, beide mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden, beide waren durch stumpfe Gewalteinwirkung gestorben. Hatten diese beiden Menschen irgendeine persönliche Verbindung zum Mörder? Oder untereinander? Ich versuchte, mich an die Einzelheiten aus Anne Chambers’ Akte zu erinnern. Ich hatte mir die Polizeiakte sowie die Berichte und Fotos der Autopsie und der Spurensicherung angesehen. Man hatte festgestellt, dass Tatort und Fundort der Leiche identisch waren, was für diesen Täter typisch war. Der Mord an Anne fand in ihrem Zimmer des Studentenheims statt und war besonders brutal gewesen. An ihrem Hals und an ihren Handgelenken hatte es tiefe Schlingenmale gegeben, und sie war mit dem Fuß einer Lampe so heftig geschlagen worden, dass ihre Gesichts- und Schädelknochen zertrümmert wurden. Ich dachte an LaBrecques Gesicht, an das blutige Nudelholz. Nur an diesen beiden Tatorten war die Tatwaffe sichergestellt worden. Nachdem die Opfer so brutal geschlagen worden waren, dass sie bewusstlos oder bewegungsunfähig waren, wurden sie gefesselt, sodass der Mörder mit dem beginnen konnte, was mittlerweile als Ritual zu bezeichnen war: mit dem Stechen und Beißen in den Genitalbereich. Doch auch das war bei Anne Chambers anders gewesen. Bei Anne ging die Brutalität über Steiß, Gesäß und Oberschenkel noch weit hinaus. Sie war mit einemMesser penetriert und Klitoris und Brustwarzen waren abgeschnitten worden. Der Gerichtsmediziner zählte über hundert Stichwunden – eine unfassbare Raserei, der wir so an den vier jüngsten Tatorten nicht begegnet waren. Als hätte es bei seinem ersten Mord eine besondere, persönliche Verbindung gegeben, außergewöhnlichen Hass und Zorn. Ich musste die Laborberichte zu LaBrecque ansehen, um zu vergleichen, ob das Moment der Demütigung in seinem Fall genauso ausgeprägt war.
David Brooks war einem anderen Mörder begegnet als Anne Chambers. Sein Mörder hat sein Leben schnell und von hinten beendet, geräuschlos, und er hatte seinen toten Körper bedeckt, um seine Würde zu schützen. Es gab keinerlei Hinweise auf sadistisches Verhalten. Der Sadist will das Opfer leiden sehen und geilt sich auf am Schmerz und an der Angst des Opfers. Sadistisches Verhalten kann erklärtermaßen keine Taten nach Eintritt des Todes beeinhalten, denn wenn das Opfer tot ist, kann es nicht mehr leiden, nicht mehr schreien oder den Peiniger anflehen. All die Bisse und Stiche in den Genitalbereich waren Brooks nach Eintritt des Todes zugefügt worden. Er konnte den Schmerz nicht mehr spüren. Sie hatten also ein anderes Motiv, ein sexuelles und rituelles, sie mussten irgendein heftiges Verlangen des Mörders befriedigen.
Anne Chambers hatte mehr gelitten, sie wurde länger am Leben erhalten und sexuell verstümmelt. LaBrecque war so brutal geschlagen worden, dass ich sein Gesicht kaum noch erkennen konnte. Brooks hatte am wenigsten gelitten. Obwohl nur er eine Verbindung zum Zivilrecht hatte, war allen drei Fällen etwas gemeinsam: die typische Manipulation des Tatortes, die typischen Stich- und Bisswunden, jedes Mal in den gleichen Körperzonen. Was hatte das zu bedeuten?
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Ich musste mit Rauser sprechen. Ich fragte mich, ob er die E-Mail bereits erhalten hatte und was er darüber dachte. Und ich betete, dass sie nicht an die Zeitungen geschickt worden war.
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