Cut
enn man auf der Interstate 85 aus Atlanta heraus nach Süden fährt, erkennt man den Hartsfield-Jackson-Flughafen als einen schimmernden Strich am Horizont und darüber die Kondensstreifen. Es ist ein gigantisches, geschäftiges Gelände für sich, ein Bezirk ohne Einwohner oder Zentrum, eine Stadt namenloser Passanten, in der niemand auffällt.
Hartsfield-Jackson überwältigt jeden Besucher. Gerade der Ort, an dem wir heutzutage besonders aufmerksam sein sollten, macht genau dies beinahe unmöglich. Sobald man durch die automatischen Glastüren die riesigen Terminals betritt, wird man mit Lautsprecherdurchsagen, blinkenden Vorschriften, durchgegebenen Hinweisen, Laufbändern, Bars und Wartehallen, Rolltreppen, Videoleinwänden, Sicherheitskontrollen, Geschäften, U-Bahn -Eingängen, dem Lärm von dreiundvierzigtausend Angestellten, Soldaten, Polizisten, Suchhunden und Reisenden konfrontiert. Überall und ständig wird man mit Informationen und Lärm und Licht bombardiert, aber im Grunde achtet niemand auf seine Umgebung. Trotz der neuen Bedrohungen und der erhöhten Wachsamkeit interessiert sich jeder nur für seine eigenen Belange. Mit einer einfachen Veränderung des Äußeren, mit einer Brille zum Beispiel, und in unauffälliger Kleidung kann man hier unbemerkt an einem guten Bekannten vorbeigehen oder neben ihm am selben Zeitungsstandstehen. An solchen Orten sehen die Leute ihre Mitmenschen nur in Kategorien und Schubladen: ein Reisender, ein Kunde, ein Polizist, ein Geschäftsmann. An einem öffentlichen Ort unsichtbar zu sein ist sehr leicht.
Ein paar hundert Meter von dem Flugsteig entfernt, an dem meine Maschine aus Denver angekommen war, führen steile Rolltreppen hinab zu den Gängen und Zügen im Untergrund. Von oben betrachtete ich die Menge der Fremden. Für so etwas war ich ausgebildet worden. Ich weiß, worauf man achten muss, ich registriere jede schnelle Bewegung, jeden seltsamen Schritt, jede Person, die aus der Menge hervorsticht oder zu aufmerksam ist. Obwohl ich Jeans und einen ärmellosen Pullover trug, war mir schon im Flugzeug heiß geworden, und meine Körpertemperatur hatte sich noch nicht normalisiert. Über der Schulter hing meine Computertasche. Noch eine Minute bis zum nächsten Zug, kündigte die Digitalanzeige an. Kurz bevor er in den Bahnhof einfuhr, war eine leichte Vibration zu spüren, begleitet von einem tiefen Brummen. Dann öffneten sich zischend die Türen.
Schnell schlüpfte ich durch die Menge, um noch hineinzukommen, ehe die Türen wieder zugingen, und hielt mich an einer Stange im Gang fest. Ich ließ meinen Blick durchs Abteil schweifen. Es war durchaus vorstellbar, dass ein Egoist, ein Voyeur, ein gewalttätiger Soziopath wie der Täter, den wir suchten, mich bei meiner Rückkehr beobachten wollte. Dass er prüfen wollte, ob mir die Angst und der Stress anzusehen waren. Schließlich ging es ihm darum, das Leben anderer zu verändern und zu beeinträchtigen. Und nun waren sowohl Rauser als auch ich in sein Visier geraten. Wahrscheinlich wollte er eine Weile Katz und Maus spielen. Hatte ich wirklich das Gefühl, beobachtet zu werden, oder war das nur eine Auswirkung der E-Mail in meinem Postfach? Ich hatte sie im Flugzeug immerwieder gelesen und war ausreichend in Alarmbereitschaft versetzt.
Meine DNA würde Ihnen nur eines bringen: einen Hinweis beim nächsten Mal … Die Medien reißen immer alles aus dem Zusammenhang, anstatt die ganze Geschichte zu erzählen. Worauf werden sie sich wohl als Nächstes stürzen? W.
Nachdem ich den Zug verlassen hatte, musste ich noch ein ganzes Stück durchs Parkhaus laufen, das schon tagsüber dunkel und abweisend ist. Jetzt aber, kurz nach Mitternacht, da kaum noch Flugverkehr herrschte und nur hin und wieder das geisterhafte Grollen einer Maschine das Geräusch meines über den Beton rollenden und hüpfenden Koffers übertönte, war es so unheimlich, als würde jeden Moment jemand aus den Büschen springen. Okay, ich weiß, im Flughafen gibt es keine Büsche. Aber der Punkt ist, dass ich offenbar nicht mehr zwischen tatsächlicher und eingebildeter Gefahr unterscheiden konnte.
Ich fragte mich die ganze Zeit, ob ich die Nächste war. Nein. Ich passte überhaupt nichts ins Opferprofil. Doch was hatte das bei diesem Täter zu sagen? Wie wählte er denn seine Opfer aus? Wir hatten einen Aspekt herausgefunden, der ein paar Opfer miteinander verband, jedoch nicht alle, und deshalb waren wir weit davon entfernt, sein
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