Cyberabad: Roman (German Edition)
Radikaloperationen für Männer und Frauen machte, die keine Männer oder Frauen mehr sein wollten, falls du verstehst, was ich meine.«
»Neuts«, brüllte Lisa Durnau über das Meer aus Köpfen hinweg. Die Besatzung des Tragflügelboots hatte das Tor zum Anlegesteg verbarrikadiert und ließ sich von den Händen, die durch das Gitter gestoßen wurden, Geld geben, um einzelne Flüchtlinge hindurchzulassen. Lisa schätzte, dass sie bereits die Hälfte der Strecke bis zum Tor zurückgelegt hatten, aber sie wurde allmählich müde.
»Neuts«, rief Thomas Lull zurück. »Die Vermutung ist weit hergeholt, aber falls ich recht habe, ist das das fehlende Bindeglied.«
Wozu?, wollte Lisa Durnau fragen, aber die Menge drängelte zu sehr. Das Tragflügelboot wurde von Sekunde zu Sekunde voller. Flüchtlinge standen hüfttief im Ganges, hielten Babys und Kinder hoch, die von der Besatzung unsanft mit Stangen zurückgestoßen wurden. Thomas Lull zog Lisa Durnau näher an sich. Sie kämpften sich bis zur Spitze der Schlange vor. Das Stahltor wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Körper knallten gegen das Gitter.
»Hast du grüne Scheine dabei?«
Eine Durchsuchung ihrer Tasche förderte dreihundert in Reiseschecks zutage. Thomas Lull hielt sie hoch.
»US-Dollars! US-Dollars!«
Der Steward winkte ihn heran. Seine Leute drängten die anderen Menschen zurück.
»Wie viel wie viel?«
Thomas Lull hob zwei Finger.
»Herein herein.«
Sie zwängten sich durch das kaum geöffnete Tor und gingen über den Landungssteg an Bord. Zehn Minuten später legte das Tragflügelboot extrem überladen ab und entfernte sich von der immer größer werdenden Menge an den Ghats. Für Lisa Durnau, die durch das schmutzige Fenster lugte, sah die Masse wie ein Blutgerinnsel aus.
In der überfüllten Lounge schiebt sie Thomas Lull die Lade zu. Er blättert die Seiten mit den Daten des Tabernakels durch.
»Wie ist es so im Weltraum?«
»Es stinkt. Es ist anstrengend. Man verbringt die meiste Zeit im Delirium und bekommt nie die Gelegenheit, etwas zu sehen.«
»Klingt ein bisschen wie ein Rockfestival. Das Erste, was mir daran auffällt, ist, dass ihr davon ausgeht, es müsse sich um das Artefakt einer außerirdischen Zivilisation handeln.«
»Wenn das Tabernakel sieben Milliarden Jahre alt ist, warum sehen wir dann nicht überall Spuren der Aliens, die es gebaut haben?«
»Eine Variante des Fermi-Paradoxons – wenn Aliens existieren, wo sind sie dann? Lass uns mal überlegen: Wenn wir für die Erbauer des Tabernakels eine Expanisionsrate von zehn Prozent Lichtgeschwindigkeit annehmen, hätten sie in sieben Milliarden Jahren alles von hier bis zur Sculptur-Galaxiengruppe kolonisiert.«
»Neben ihnen würde es nichts anderes mehr geben ...«
»Aber wir finden von ihnen nur einen beschissenen kleinen Asteroiden? Da stimmt doch etwas nicht. Außerdem, wenn das Ding fast doppelt so alt ist wie unser Sonnensystem ...«
»Woher wussten sie dann, dass wir irgendwann hier sind, um es finden zu können?«
»Dass dieser Wirbel aus Sternenstaub eines Tages dich, mich und Kij betreffen würde. Ich glaube, diese Theorie können wir verwerfen. Hypothese Nummer zwei: Es ist eine Botschaft von Gott.«
»Jetzt übertreibst du, Lull.«
»Ich gehe jede Wette ein, dass es sogar während des Frühstücksgebets im Weißen Haus geflüstert wurde. Das Ende der Welt ist nahe.«
»Dann wäre es gleichzeitig das Ende jeder rationalen Weltanschauung. Zurück ins Zeitalter der Wunder.«
»Genau. Ich bilde mir gern ein, dass mein Leben als Wissenschaftler keine völlige Verschwendung war. Also halte ich mich lieber an Theorien, in denen ein Körnchen Rationalität steckt. Hypothese Nummer drei: ein fremdes Universum.«
»Dieser Gedanke ist auch mir gekommen«, sagt Lisa Durnau.
»Wenn sich irgendjemand vorstellen kann, was es da draußen im Polyversum geben könnte, dann du. Der Big Bang bläht sich zu mehreren separaten Universen auf, in denen leicht abweichende physikalische Gesetze herrschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es mindestens ein weiteres Universum mit einer Kij, einer Lull und einer Durnau gibt, liegt praktisch bei einhundert Prozent.«
»Sieben Milliarden Jahre alt?«
»Andere physikalische Gesetze. Die Zeit läuft schneller ab.«
»Hypothese Nummer vier.«
»Hypothese Nummer vier: Alles ist nur ein Spiel. Beziehungsweise eine Simulation. Ganz unten besteht die physikalische Realität aus Regeln und der Anwendung von Regeln, aus den simplen
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