Cyberabad: Roman (German Edition)
übrig. Und das da drinnen ist Technik, die einem menschlichen Gehirn ermöglicht, direkt mit einer Maschine zu kommunizieren. Sie hat sie gehackt.«
»Kein Gott, keine Götter«, sagt Thomas Lull.
Lisa spürt, wie der Rumpf stärker vibriert. Das Schiff drosselt den Wasserstrahlantrieb und lässt sich auf die Tragflügel nieder, während es sich den überfüllten Gewässern um Patna nähert. Durch das Fenster erkennt sie die billigen, massengefertigten Industrieanlagen und exurbanen Infotech-Bauten, die sich hinter den weiten, sandigen Ufern des Ganges ausbreiten.
»Was sieht sie? Einen Halo von Informationen rund um Menschen und Dinge. Sie sieht einen Vogel und nennt dir die wissenschaftliche Spezies. Es klingt wie aus Die Vogelwelt von Südwest-Indien . Im Bahnhof erzählt sie einer Familie, dass ihr Sohn verhaftet wurde, welchen Zug die Leute nehmen, an welchen Anwalt sie sich wenden sollen. Das sind Polizeiberichte, die gelben Seiten von Allahabad und der Zugfahrplan von Mumbai. Sie verhält sich in jeder Hinsicht wie jemand, dessen Gehirn ans Netz angeschlossen ist.«
Lisa streicht mit den Fingern über die geisterhaften Bilder auf der Lade.
»Das ist nur ... wie sie es macht. Ich weiß nicht, wer sie ist, ich weiß nicht, wie Jean-Yves und Anjali darin verwickelt sind. Aber ich weiß, dass jemand ein Mädchen genommen hat und aus ihr ein Experiment machte, ein monströses Versuchskaninchen für eine neue Gehirn-Maschine-Interface-Technologie.«
Die Passagiere rühren sich, sammeln ihre Angehörigen und Besitztümer um sich. Die kurze Atempause auf dem Wasser ist fast vorbei, nun müssen sie sich mit einer fremden, neuen, unbekannten Stadt auseinandersetzen.
»Bis zu diesem Punkt stimme ich dir uneingeschränkt zu, L. Durnau«, sagt Thomas Lull. »Aber ich glaube, dass es genau andersherum ist. Es geht nicht um ein System, das einem Menschen ermöglicht, mit einer Maschine zu interagieren. Dieses System ermöglicht Maschinen, mit einem menschlichen Gehirn zu interagieren. Sie ist eine Kaih, die in einen menschlichen Körper heruntergeladen wurde. Sie ist die erste und letzte Botschafterin der Generation Drei für die Menschheit. Ich glaube, deswegen gehören wir drei für das Tabernakel zusammen. Es ist die Prophezeiung einer Begegnung .«
Sie ist eine Waise in der Stadt der Götter und aus diesem Grund niemals allein. Götter rauschen hinter ihr wie Flügel, Götter umschwirren ihren Kopf, Götter purzeln und rollen zu ihren Füßen, Götter falten sich vor ihr auseinander wie eine Million sich öffnender Türen. Sie hebt eine Hand, und zehntausend Götter lösen sich voneinander und verschmelzen wieder. Jedes Gebäude, jedes Fahrzeug, jede Lampe und jede Neonreklame, jeder Straßenschrein und jede Ampel erbebt vor Göttern. Mit einem Blick kann sie hundert Phatphat-Fahrzeugzulassungen sehen, die Gebutsdaten und Adressen der Fahrzeughalter, ihren Versicherungsstatus, ihre Kreditwürdigkeit, ihre Schulausbildung und ihr polizeiliches Führungszeugnis, ihre Kontonummern, die letzten Zeugnisse ihrer Kinder, die Schuhgröße ihrer Frauen. Götter entrollen sich wie Papierschlangen. Götter durchweben sich gegenseitig wie Goldfäden in einem Seidenwebstuhl. Hinter dem Nachtleuchten ist der Horizont eine juwelenbesetzte Krone aus Gottheiten. Hinter dem Verkehrschaos, den Sirenen, den lauten Stimmen und dem Autohupen und der plärrenden Musik hört sie das Geflüster von neun Millionen Göttern.
Hier droht Gewalt , warnt der Gott der Gali, die von der hell erleuchteten Straße mit Chai-Bars und Imbiss-Ständen abgeht. Sie bleibt stehen, als sie immer lautere männliche Stimmen hört, die durch die schmale, von Jharokas gesäumte Gasse hallen. Studierende Karsevaks kommen brüllend angerannt. Sie pickt sich einen aus dem Götterraum heraus: Mangat Singhal, Studium des Maschinenbaus an der University of Bharat. Er hat eine für drei Jahre bezahlte Jugend-Mitgliedschaft bei der Shivaji, er wurde zweimal als Randalierer bei den Demonstrationen am Sarkhand Roundabout verhaftet. Seine Mutter hat durch Rauchen verursachten Kehlkopfkrebs und wird wahrscheinlich ihre Reise zu den Ghats antreten, bevor dieses Jahr vorüber ist. Hier entlang , sagt der Gott des Taxistands und zeigt ihr den Maruti, der hinter den panischen Chai-Wallahs fährt, die hastig ihre Stahlgitter herunterlassen. Schaden auf zwanzigtausend Rupien geschätzt , verrät ihr der Gott der kleinen Versicherungsfälle, als sie das Krachen eines
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