Cyberabad: Roman (German Edition)
formlose Ding beinahe fallen gelassen, weil sie denkt, dass es eine tote Katze ist. Dann versteht sie, was sie gefunden hat: die schwarze Tasche. Die andere schwarze Tasche, die für die besonderen Besuche. Sie greift nach den silbrigen Verschlüssen.
In Najia Askarzadahs Erinnerung endet die Geschichte, als ihre Mutter schreiend in der Küchentür steht. Danach folgen nur noch Fetzen aus Gebrüll, wütende Stimmen, Strafen, Schmerzen und wenig später die mitternächtliche Flucht durch die Straßen von Kabul, auf dem Rücksitz liegend, während die Straßenlampen wie langsame Stroboskopblitze vorbeiziehen. In der virtuellen Kindheit der Kaih spitzt sich der Schrei zu einem stechenden Geruch nach Winter zu, nach Kälte und Stahl und ausgetrockneten toten Dingen, bis sie davon geblendet wird. Dann erinnert sich Najia Askarzadah. Sie erinnert sich, wie sie die Tasche öffnet. Ihre Mutter stürmt über die Terrasse und wirft die Plastikstühle um, die dort jede Witterung überlebt haben. Sie erinnert sich, wie sie hineinschaut. Ihre Mutter ruft ihren Namen, aber sie blickt nicht auf. Drinnen ist Spielzeug, aus glänzendem Metall, aus dunklem Gummi. Sie erinnert sich, wie sie die Dinge aus rostfreiem Stahl mit den Handschuhen aufnimmt und ins winterliche Sonnenlicht hält: das Spekulum, die gekrümmte Nähnadel, der Löffel zum Ausschaben, die Spritzen und die Tuben mit Gel, die Elektroden, das geriffelte Gummi des elektrischen Knüppels. Ihre Mutter zerrt sie an der Pelzkapuze fort, schlägt ihr die Dinge aus Metall und Gummi aus den Händen, wirft sie auf den Gartenpfad, und der vom Frost gehärtete Kies zerfetzt ihr die Strumphose, schürft ihre Knie auf.
Die feinknochigen Äste der Aprikosenbäume verflechten sich und befördern Najia Askarzadah in eine andere Erinnerung, die nicht ihre eigene ist. Sie war noch nie in diesem Korridor mit grünem Boden und Wänden aus Betonblocksteinen, aber sie wusste, dass er existiert. Es ist eine wahre Illusion. Es ist ein Korridor, wie man ihn in einem Krankenhaus erwartet, aber er hat nicht den Geruch eines Krankenhauses. Es gibt die großen durchsichtigen Schwingtüren eines Krankenhauses, die Farbe ist an den Metallecken abgewetzt, was auf häufige Benutzung schließen lässt, aber im grünen Korridor ist niemand außer Najia Askarzadah. Von einer Seite weht kalte Luft durch die Jalousie vor einem Fenster herein. Auf der anderen Seite gibt es beschriftete und nummerierte Türen. Najia geht durch eine Schwingtür, durch zwei, drei. Jedes Mal wird es etwas lauter, das Schluchzen einer Frau, die am Ende von allem angelangt ist, wo keine Scham oder Würde mehr übrig ist. Najia läuft auf das Gewimmer zu. Sie kommt an einer Krankenhausliege vorbei, die leer neben einer Tür steht. Die Liege hat Riemen für Fußknöchel, Handgelenke, Hüfte. Und für den Hals. Najia geht durch die letzte Tür. Das Schluchzen steigert sich zu einem schrillen Klagen. Es kommt aus dem letzten Zimmer auf der linken Seite. Najia drückt die Tür gegen den Widerstand der harten Feder auf.
Mitten im Raum befindet sich der Tisch, und mitten auf dem Tisch liegt die Frau. Neben ihr auf dem Tisch steht ein Rekorder mit angeschlossenem Mikrofon, das über ihrem Kopf hängt. Die Frau ist nackt, und ihre Hände und Füße sind an Ringen an den Ecken des Tisches gefesselt. Ihre Arme und Beine sind straff gespreizt. Ihre Brüste, die Schenkelinnenseiten und der rasierte Schamhügel sind mit Zigarettenbrandwunden übersät. Ein chromglänzendes Spekulum öffnet ihre Vagina für Najia Askarzadahs Blick. Ein Mann im Arztkittel und mit grüner Plastikschürze sitzt zu ihren Füßen. Er trägt eine dicke Schicht Kontaktgel auf einen kurzen elektrischen Knüppel auf, weitet das Spekulum bis zum Maximum und schiebt den Knüppel zwischen die stählernen Lippen. Die Schreie der Frau werden unverständlich. Der Mann seufzt, blickt sich einmal zu seiner Tochter um, hebt zum Gruß die Augenbrauen und drückt auf den Schalter.
»Nein!«, schreit Najia Askarzadah. Es gibt einen weißen Blitz, ein Krachen wie vom Untergang eines Universums. Ihre Haut schimmert im synästhetischen Schock. Sie riecht Zwiebeln Räucherstäbchen Sellerie und Rost, sie liegt auf dem Boden in der Designkabine von Indiapendent, und Thal beugt sich über sie. Ys hält ihren Hoek in der Hand. Schlagartige Unterbrechung. Ihre Neuronen zucken. Najia Askarzadahs Lippen bewegen sich. Es gibt Worte, die sie sagen, Fragen, die sie stellen muss, aber sie
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