Cypherpunks
verschwanden einfach. Es war, als hätten sie nie existiert. Es gab kein »Wir wurden verklagt und haben beschlossen, die Geschichte zu entfernen.« Sie verschwanden auch aus den Indizes. WikiLeaks hat sie ausgegraben und veröffentlicht. 109
JACOB: Sie löschen die Geschichte.
JULIAN: Die Geschichte wird nicht nur verändert, sie hat niemals existiert. Es gilt Orwells Diktum: Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit; wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Es ist die unnachweisbare Ausradierung der Geschichte im Westen, und das ist lediglich die Zensur nach der Veröffentlichung. Die Selbstzensur vor der Veröffentlichung ist noch weit stärker verbreitet, aber häufig schwer aufzudecken. Wir haben das beim Skandal um die amerikanischen Botschaftsdepeschen (Cablegate) gesehen. Da WikiLeaks mit unterschiedlichen Medienpartnern zusammenarbeitet, wissen wir, welche unser Material zensieren. 110
Die New York Times zum Beispiel hat einen Botschaftsbericht gekürzt, laut dessen über in Libyen tätige Erdölservice-Unternehmen Millionen von Dollar zur verdeckten Beeinflussung von Libyern mit politischen Verbindungen Politikern verteilt wurden. Obwohl die Depesche die betreffenden Unternehmen nicht einmal namentlich nannte, strich die New York Times den Ausdruck »oil service companies«. 111 Die wohl krasseste Verzerrung erlaubte sich die New York Times bei einem 62-seitigen Botschaftsbericht über das nordkoreanische Raketenprogramm, aus dem die Zeitung zwei Absätze zitiert, um den Eindruck zu erwecken, dass Nordkorea Raketen an die Iraner verkauft hätte, obwohl sich an anderer Stelle in dem Bericht die genau gegenteilige Argumentation findet. 112
Der Guardian redigierte einen Botschaftsbericht über Julia Timoschenko, die ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine, demzufolge sie ihren Reichtum womöglich in London versteckte. 113 Sie zensierte die Vermutung, dass die kasachische Elite allgemein korrupt sei – ohne dass auch nur eine Person namentlich genannt worden wäre – sowie eine Vermutung, dass sowohl ENI, ein in Kasachstan tätiger italienischer Energiekonzern, als auch das Energieunternehmen British Gas korrupt seien. 114 Im Grunde übte der Guardian Zensur, wenn in den Botschaftsberichten Reiche irgendeines Vergehens beschuldigt wurden, es sei denn, die Zeitung verfolgte eine Agenda gegen sie. 115 In einem Bericht über das organisierte Verbrechen in Bulgarien wurde zum Beispiel ein Russe erwähnt, den sich der Guardian herausgepickt hat, sodass es den Anschein hatte, als handele die ganze Geschichte von ihm, obwohl er nur einer aus einer langen Liste von Organisationen und Personen war, die dort mit dem organisierten Verbrechen in Bulgarien in Zusammenhang gebracht wurden. 116 Der Spiegel zensierte einen Absatz über Angela Merkels Maßnahmen, durchaus nicht aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes, sondern allein aus politischer Rücksichtnahme auf die Bundeskanzlerin. 117 Es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele. 118
ANDY: Unser Verständnis von Informationsfreiheit und freiem Informationsfluss ist in mancher Hinsicht ein radikal neues Konzept, wenn ihr euch die Erde insgesamt anschaut. Ich würde sagen, Europa und andere Länder unterscheiden sich da nicht sehr. Klar, es gibt Länder, die haben einen demokratischen Rahmen, was bedeutet, dass du lesen und verstehen kannst und die Zensurinfrastruktur vielleicht sogar juristisch bekämpfen darfst – was nicht heißt, dass sie nicht da wäre –, während du damit in Saudi-Arabien oder China deine liebe Not hättest.
JULIAN: Meine Erfahrung im Westen ist, dass er einfach viel raffinierter ist in der Anzahl der Ablenkungs- und Verdunkelungsschichten, die sich über das wirkliche Geschehen legen. Diese Schichten sind da, um die Zensur, die betrieben wird, glaubhaft abzustreiten. Ihr könnte euch Zensur als Pyramide denken. Nur die Spitze dieser Pyramide lugt aus dem Sand heraus, und das mit Absicht. Die Spitze ist öffentlich – Verleumdungsklagen, Ermordung von Journalisten, vom Militär beschlagnahmte Kameras und so weiter –, öffentlich erklärte Zensur. Aber das ist der kleinste Anteil. Unter der Spitze liegt die nächste Schicht, all die Leute, die nicht an der Spitze zu finden sein wollen, die Selbstzensur üben, um nicht dort zu enden. Die nächste Schicht besteht dann aus all den Formen von wirtschaftlicher Beeinflussung oder Begünstigung, die bewirken soll, dass Leute gerade dies oder das
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