Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
spät.
Oder nicht?
12
I ch sitze vor dem Rotlicht einer Kamera und soll erzählen, warum mir die Tränen kamen, beim Abschied von der Zen-Meisterin. Und wie aus dem Nichts will ein Wort nach vorn, das mich überrascht, aber sehr stimmig ist: Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, hier zu sein. In mich reinzuhören, der inneren Stimme einen Lautsprecher zu geben.
Wer auch immer mich führt und leitet, behütet und beschützt, hat einen Plan. Sonst wäre ich nicht hier. Auch dafür bin ich dankbar.
Einmal mehr muss ich übrigens mein Menschenbild korrigieren. Die Zen-Meisterin ist nicht verlassen worden. Im Gegenteil. Sie und ihr Mann sind zusammengeblieben, haben vor dreißig Jahren geheiratet, die drei Kinder sind schon erwachsen. Der Ehemann ist Metzger irgendwo im Bayrischen, sie ist Pastorin. Sie hat sich ihr Leben gut eingeteilt. Drei Tage in der Woche lebt sie für sich, meditiert, lehrt andere das Innehalten. Den Rest der Woche ist sie fest verankert in einem ganz anderen Alltag. Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, sonntags steht sie regelmäßig auf der Kanzel.
Als ich sie frage, was sie zum Zen-Buddhismus gebracht hat, ist die Antwort ebenso überraschend wie klar: die Müdigkeit.
Als die drei Kinder sehr klein waren, gab es für sie keine ruhige Minute, sie fand keine Zeit für sich. War einfach nur müde. Sehr müde.
Zu einem Geburtstag bekam sie von ihrem Mann einen Gutschein über einen Monat Zeit. Vier Wochen, mit denen sie machen konnte, was sie wollte. Mit dem Zeitgeschenk landete sie zufällig in diesem Kloster, in dem ich ihr jetzt gegenübersitze. Sie mochte sofort die Stille, das Zurückgezogensein. Kam immer wieder. Blieb schließlich.
Und geht. Ihren Weg, von dem sie nicht weiß, wohin er sie führen wird. Aber die Richtung ist nicht wichtig. Sie ergibt sich, wenn man mit sich selbst unterwegs ist.
Sie wartet nicht auf etwas, das kommen könnte. Es ist schon da. Das Leben. In jedem Augenblick.
Er ist nicht abgereist. Aber er ist ein anderer geworden, der Birnenmann. Er steht am großen Tor, und ich hätte ihn fast nicht erkannt. Kleider machen eben doch Leute.
Der Birnenmann, der sonst leicht geduckt in Braun-Schwarz im Speisesaal aufläuft, hat sich in ein flottes Jeans-Outfit geworfen. Flott, weil die Jeansjacke ziemlich modern ausgefranst ist und in ihrem oberen Teil Dutzende von bunten Pins stecken. Drunter trägt er ein knalloranges T-Shirt, eine Lederkette mit Amulett, ein Lederarmband, an den Füßen edle Cowboystiefel. Und passend zur Jacke einen imposanten Jeanshut mit breiter Krempe. Der Mann macht was her, keineFrage. Nicht so viel, dass ich ihm freiwillig meine Birnenration abtreten würde, aber er hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Er geht durchs Tor, winkt mir noch einmal kurz zu, wendet sich entschlossen nach links. Links gibt es nur noch ein Haus, dann kommt eine große Brombeerhecke, der Weg und auch das Dorf sind hier zu Ende. Dieses Haus hat es in sich. Es ist schön bayrisch und schön alt, in den Fenstern hängen Holzkästen mit roten Geranien. Über der Tür baumelt ein schmiedeeisernes Schild mit der Aufschrift »Zum goldenen Engel«. Vor dem Haus gibt es Tische mit karierten Tischdecken, und freundliche Bedienungen in Dirndln laufen hin und her, schleppen riesige Maßkrüge und üppig beladene Teller.
Es ist das dritte Abendessen, bei dem der Birnenmann fehlt. Beim Anblick seines leeren Stuhles überfällt mich eine unerwartete Gier nach Schweinsbraten mit Knödeln und einer Maß.
13
A m nächsten Morgen reise ich in aller Herrgottsfrühe ab. Wer hat diesen Begriff erfunden, Herrgottsfrühe? Eilfertige Menschen, die schon morgens vor dem ersten Sonnenlicht den Rücken krumm machen, um ihrem Herrgott zu dienen?
Herrgott. Klingt nach unerbittlicher Strenge, fast schon zum Fürchten. Hat mit meinem lieben Gott nichts zu tun. Auch nichts mit meinem Kinderglauben, den ich mir ins Erwachsenenleben gerettet habe.
Der Schauspieler Moritz Bleibtreu nennt ihn noch anders, er spricht von »meinem kleinen Gott«. In einem Interview hat er erzählt, wie nahe und wie verbunden er sich ihm fühlt.
Mein kleiner Gott. Hört sich an, als sei es nur für ihn da. Privatbesitz sozusagen. Das gefällt mir. Ist bei meinem Gott auch so. Vieles im Leben, sagt Bleibtreu, passiert weitaus weniger zufällig, als es scheint. Hat man das erst mal erfahren, ist es fast unmöglich, nicht daran zu glauben, dass es etwas gibt, was alles im
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