Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
Sinnfrage. Und darunter, in fetten Lettern, kommt sie, die Sinnfrage, die mir in den Mund gelegt wird: Wie viel Leben bleibt mir noch?
Wie bitte? Christine Westermann fragt sich, wie viel Leben ihr noch bleibt?
Möglichkeit 1: Sie hat eine todbringende Krankheit und kann die noch verbleibenden Lebensmonate an einer Hand abzählen.
Möglichkeit 2: Von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt, ist sie bereits stark vergreist, kurz vor dem Ableben, und verabschiedet sich mit dieser Dokumentation für immer vom Fernsehpublikum.
Wie viel Leben bleibt mir noch?
Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage.
Es geht mir nicht um das Wieviel. Das Wohin ist das Entscheidende, die Richtung, die ich meinem Leben noch geben will. Nur deshalb habe ich mich auf diese Suche eingelassen.
Es gelingt mir, meinen Zorn so weit zu kanalisieren, dass ich einen sehr klaren Brief schreibe, in dem ich feststelle, dass ich mich aus diesem Projekt zurückziehen werde, sollte dieser Unsinn weiter öffentlich die Runde machen.
Zwei Minuten später habe ich – inklusive Entschuldigung, Kniefall und Zerknirschung – die Zusicherung, dass der Pressetext geändert wird. Mein Zorn ebbt ab, zieht sich zurück, als würde Moses das Meer teilen.
Und mir bleibt eine kleine, aber interessante Erkenntnis. Ich habe nicht gezetert, nicht gejammert, ich war nicht emotional, nicht in der Mail, allenfalls in Richtung Schreibtischbein. Stattdessen war ich klar, sehr klar: so nicht. Mit mir nicht. Das könnte ich in Zukunft häufiger mal versuchen.
17
A ls würde mir mein Verstand den Zugang zu den einfachsten Dingen verwehren.
»Guten Abend, wie geht’s?«
»Sind Sie das erste Mal hier?«
Simple Fragen, harmlose Sätze, die mich überfordern, wenn ich mit einem Glas in der Hand in einer illustren Runde stehe. Falsch. Sie muss nicht einmal illuster sein, die Runde. Nur fremd müssen sie sein, die Menschen, neu, mir unbekannt. Nichts geht mehr, ich bleibe stumm, bin unfähig, Small Talk zu machen. Eine leichte Unterhaltung zu beginnen, Oberflächliches, von mir aus auch sinnfreies Wortgeklimper zu produzieren, scheint gänzlich ausgeschlossen.
»Mir geht es gut, danke. Ich war schon im letzten Jahr hier. Und Sie?« Kommt mir nicht über die Lippen. Ich habe in meinem Leben viele Interviews gemacht, Fragen gestellt, mich für Leute interessiert, warum funktioniert das nicht auch privat?
»Wie schmeckt Ihnen der Wein, den Sie trinken?«, könnte ich fragen. Ideale Startrampe für mein Gegenüber für einen Freiflug zu seinen bevorzugten Rebsorten.
»Ich mag ja am liebsten Rotwein, vor allem den italienischen, aber bei unserer letzten Reise waren wir in Apulien, haben ein kleines Weingut kennengelernt, der Rosé, den sie machen, war fantastisch.«
Man muss jetzt nur noch geschickt nachfragen, um das Gespräch endlos in Gang zu halten. Man erfährt vielleicht alles von seiner Weltreise, die ihn damals nach Australien geführt hat, wo er auch im Barossa-Valley war. Jenem fantastischen Weingebiet, in dem vor zweihundert Jahren deutsche Auswanderer …
So könnte es doch gehen, oder? Mit der schlichten Frage nach dem Wein kann man locker eine halbe Stunde Zeit schinden, in der man dem gepflegten Monolog eines Weitgereisten lauscht.
Nicht mit mir.
Ich ducke mich lieber sachte weg, weil ganz sicher Fragen kommen, ich Gefahr laufe, als naive Nichtwisserin dazustehen.
Solche Fragen beginnen immer mit »Kennen Sie …?«.
Dahinter kommen dann wahlweise ein Schriftsteller/Buchtitel, ein Film, eine paradiesische Insel, eine Weinsorte. Falls man schon beim ersten Mal passen muss, kommt’s noch schlimmer.
»Den Dowie Doole kennen Sie aber doch, der ist ja weltberühmt, dieser australische Rote? Nein?«
»Wissen Sie, er ähnelt im Geschmack sehr dem südafrikanischen Fat Bastard. Soviel ich weiß, wurde der gerade als bester südafrikanischer Merlot des Jahres ausgezeichnet. Wundert mich, dass Sie den nicht kennen.«
Ich schüttele betrübt den Kopf, bin mir aber nicht sicher, ob ich jetzt vielleicht fragen soll, was er von AN 2 hält. Ihn erst mal auflaufen lassen, ehe ich ihm sage, dass es ein preisgekrönter Roter von der Insel Mallorca ist, um ein sehr freundliches »Wie? Den kennen Sie nicht?« hinterherzuschicken. Vielleicht auch noch ein winziges helles Lachen, verbunden mit der Hammerplatitüde: »Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah, nicht wahr?«
Aber all das traue ich mich nicht. Warum?
Weil ich es langweilig
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