Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
älter als er, das heißt doch auch, ich habe zwanzig Jahre mehr Leben als er erfahren. Was soll mir dieser Mann also zu sagen haben, was ich nicht schon wüsste?
Der Produzent lässt nicht locker, ich treffe Georg, bevor ich ins Kloster fahre. Mitten in der Stadt sitzen wir vor einem Café. Draußen, im Freien, obwohl kalter Regen von oben und heftiger Wind von vorn kommt. Für die Kameraeinstellung ist es so besser, inunserem Rücken Autoverkehr, die vielen bunten Lichter verschwimmen in fadem Morgenniesel, Menschen mit Regenschirmen huschen vorbei, das sieht nach Unruhe aus, Getriebensein, nach Großstadt eben. Könnte ein interessanter Gegensatz werden zur Klosterruhe, die mich bald umfangen wird. Georg und ich kennen uns nicht, haben uns aber eine Menge zu sagen. Besser, ich habe ihm viel zu sagen, will ihm unbedingt klarmachen, dass ich schon weiter bin, als er vermuten könnte. Längst nicht so ratlos und unsicher, wie es naheläge, bei einer Frau, die auf dem Weg zur inneren Einkehr in ein Kloster ist und deren Zug dorthin in drei Stunden fährt.
Georg beeindruckt mich sofort durch seine Ruhe, sein Lachen, die gelassene Aufmerksamkeit, mit der er meine zur Schau gestellte Überheblichkeit quittiert. Er erzählt mir etwas vom Augenblick, der zählt, vom Jetzt, weil kein Mensch wissen kann, ob es ein Morgen für ihn überhaupt noch geben wird. Es folgt das unvermeidliche Beispiel vom Blumenkübel, der mich im Hier und Jetzt von oben treffen könnte. Dann war’s das mit dem Morgen.
Das hat mir gerade noch gefehlt, denke ich. Im Augenblick leben, wie soll ich das denn machen? Deshalb bin ich doch unterwegs zu einer Auszeit, weil ich wissen will, wo es für mich im Leben langgeht. Nicht jetzt. Da geht es gleich Richtung Bahnhof. Morgen zählt, die Zukunft.
Wenn ich erst mal die Richtung weiß, bin ich gern bereit, so viele Augenblicke wie nur möglich reinzupacken. Von mir aus ignoriere ich auch gern mal die Zukunft. Obwohl ich das nicht will. Ich will mir über meine Zukunft Gedanken machen. Was könnte in einem Jahr sein, in vier? Und was ist, wenn ich siebzig bin?
Wir gehen auseinander mit dem Versprechen, uns nach dem Kloster wiederzusehen und noch mal einen Versuch im Hier und Jetzt zu unternehmen. Unter Beobachtung einer Fernsehkamera.
Ich weiß nicht, ob Georg bei unserem ersten Treffen gemerkt hat, wie hohl ich mich gefühlt habe. Wie falsch es war, nach vorn zu preschen, ihn verbal anzurempeln, ohne mal eine Minute abzuwarten, wer mir da eigentlich entgegenkommt, wer dieser Georg eigentlich ist. Ich schäme mich, bin mir selbst unangenehm, hoffe schon jetzt, dass er unsere erste Begegnung, jenen ersten für mich missglückten Einstieg irgendwie nicht so ernst nimmt. Welch wichtige Rolle er in meinem Leben spielen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Zum Glück, meine Scham wäre noch größer gewesen.
Zwei Wochen später sehen wir uns wieder.
Wieder ist eine Fernsehkamera dabei, aber diesmal bin ich sehr froh darüber. Sie liefert ein beeindruckendes Bilddokument, wie ein Mensch wirkt, dem etwas klar geworden ist. Wie es aussieht, wenn Licht auf eine Stelle fällt, die bislang im Dunkeln lag.
Wenn das Wort von der Erleuchtung nicht schon so oft und widersinnig bemüht worden wäre, ich würde es glatt so nennen. In mir klärt sich etwas, während ich mit Georg über meine Klosterzeit spreche. Ich spüre, was er mit dem Hier und Jetzt meint. Bin aufgeregt vor Freude, weil ich es verstehe, während ich mit ihm spreche. Es ist so einfach: leben, nicht warten.
Nicht darauf hoffen, dass sich eine Richtung auftut. Leben.
Ja klar, der Weg ist das Ziel, ich kenne den Satz, die Karten mit solchen Sinnsprüchen gibt es schon in jedem Supermarkt. Nur begriffen habe ich sie erst JETZT .
Im Fernsehen wird man später sehen, wie ich strahle, als hätte jemand unverhofft ein Licht in mir angeknipst. Ich freue mich wie ein Kind über ein großes unerwartetes Geschenk.
16
W ie ist das mit Zornesröte?
In den etwas schlechteren Romanen schießt sie den Protagonisten unvermittelt ins Gesicht. Würde ich es an der Temperatur meines Kopfes messen, bin ich gerade im Mittelpunkt einer wahrhaft schlechten Geschichte.
Ich sitze vor dem Computer, mein Kopf ist heiß und rot, ich könnte vor Wut gegen ein Schreibtischbein treten. Ich habe soeben die Pressemitteilung gelesen, die der Sender zur Klosterdokumentation herausgegeben hat. In einer kleinen Oberzeile steht irgendetwas von
Weitere Kostenlose Bücher