Da gewöhnze dich dran
da lagen bei uns auf’m Soffa fünf rechte Arme rum, konnteße dir fast ’n neuen Pulli draus nähen, wenn nich die Mitte gefehlt hätte. Heute läuft dat mit den Altkleidern ja allet über so ’ne Container, heute braucht niemand mehr mit’m Bollerwagen rumgehen. Wat wollt ich erzählen? Ach, Berlin. Als ich auf diesem Prenzlauer Berg stand, wat da getz so in is, da hab ich zum Führer gesacht: Hier brauchen wa nich halten. Dat kenn ich allet schon. Dat is Dortmund-Kreuzstraße hier.»
Die Berliner machen also die Dortmunder nach. Ich möchte gerade einwenden, dass es vielleicht umgekehrt ist, als in der Nachbarwohnung ein Hund bellt. Er bellt sehr laut, sehr wütend und sehr ausdauernd. Ich höre, wie eine Frauenstimme ihn beruhigen möchte, doch ohne Erfolg.
«Dat is der Köter von dem Freund vonne Gabi», erklärt Böhm, als ahne er, dass ich ihn auf den Kläffer ansprechen möchte. «Gewöhnze dich dran. Der Rainer is auch nich jeden Tach da. Der wohnt nich hier. Der kommt von Mengede.»
Ich erinnere mich an den Türkranz mit dem hölzernen Herzen, auf dem stand: «Hier wohnen Gabi und Rainer», und bin mir nicht so sicher, ob Rainer wirklich nur zu Besuch kommt. «Und wer wohnt hier sonst noch?», frage ich.
«In Parterre», sagt Herr Böhm und stemmt seine großen Treckerhände in seine Taille, «sind zwei Rentner. Der Alte macht so ’n bissken auf Hausmeister. Sonst nur Alleinstehende. Allet anständige Leute.»
Ich blicke noch einmal über den Stadtteil. Von hier oben sieht er genauso aus, wie ich mir das Ruhrgebiet vorstelle: Mehrfamilienhäuser, ein paar Arbeiterhäuschen, Schrebergärten, verrostende Hochöfen. Schräg gegenüber befindet sich im Erdgeschoss eines Hauses ein Kiosk, vor dem drei Männer, einer von ihnen mit schwarz-gelbem Schal, Bier trinken. Eine Oma zieht ihren Hackenporsche nach Hause. Das Klischee vom Pott hätte sich in diesem Moment nicht stilsicherer präsentieren können.
«Wennde willz», sagt Herr Böhm hinter mir, «kannze die Wohnung sofort haben. Ratzfatz machen wa ’n Vertrach fettich, dat geht rubbeldikatz. Wegen mir kannze nächste Woche hier rein. Bist mir sympathisch.»
Es ist Mitte Juni. In zweieinhalb Wochen beginnt mein neuer Job, bis dahin muss ich umgezogen sein. Ich habe es also ein bisschen eilig. Allerdings ist es nicht so, als gäbe es hier nicht ausreichend Wohnraum. Im Gegenteil: Dies ist die fünfte Wohnung, die ich innerhalb von zwei Tagen besichtige. Vier davon hätte ich haben können, doch die erste war zu klein. Die zweite lag im Souterrain – egal, aus welchem Fenster ich blickte, ich sah nie mehr als die Grasnarbe. Die dritte befand sich nahe einer Hauptverkehrsstraße in der Nordstadt, einem Viertel nördlich des Bahnhofs, das, wie Stadtplaner sagen, «besonderen Entwicklungsbedarf» hat. Die Brandruine gegenüber der Wohnung war jedoch seit Jahren nicht entwickelt worden. Die vierte Wohnung hatte nicht nur ein braunes Bad, sondern auch eine orange Küche, beides ohne Fenster, das Schlafzimmer war ein Durchgangszimmer, und der Balkon, ein eineinhalb Quadratmeter großes bemoostes Plätzchen unter einer halbtoten Kastanie, ging nach Norden. Dies ist die erste Wohnung, die in Ordnung ist. Nein, nicht nur in Ordnung. Ich mag sie. Ich mag das Viertel. Und ich mag Herrn Böhm.
«Okay», sage ich und drehe mich zu ihm um, «gebongt.»
Wir reichen uns die Hand.
«Gut. Freut mich. Bist ’n feines Mädken. Ich schick dir dann den Vertrach nach Hause. Kaution is zwei Kaltmieten. Wir machen dann so ’n Konto bei de Spasskasse, dann sind wa im Geschäft.»
Ich wollte nicht immer ins Ruhrgebiet ziehen. Eigentlich wollte ich nie ins Ruhrgebiet ziehen. Ich hätte gerne in Bayern gewohnt, weil es in Bayern ein bisschen wie im Sauerland ist, meiner Heimat: Kühe auf Wiesen, Trecker auf Landstraßen – überhaupt: viele, sehr viele Landstraßen –, der latente Duft frischer Gülle, stämmige Bauern, die mit Inbrunst die Union wählen und eine beinahe intime Beziehung zu Bier pflegen, dazu der Hang zu einem mit gebührender Ironie gelebten Katholizismus. Aber ich bin im Ruhrgebiet gelandet.
Im Ruhrgebiet ist man entweder geboren, oder das Leben führt einen dorthin. Niemand hegt auf dem Grund seiner Seele eine tiefe Sehnsucht, im Ruhrgebiet zu leben, so wie man sich ein Haus hinterm Deich wünscht, weißgetüncht und von windgebeugten Bäumen umsäumt. Oder wie man von einer Surfschule am Palmenstrand oder von einer Altbauwohnung mit knarrenden
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