Da gewöhnze dich dran
allet», sagt Schmidtchen. «Abba nun wolln wa dich nicht länger aufhalten. Wir sehen uns ja sowieso bald jeden Tach.»
Jeden Tag hoffentlich nicht. So konkret ist die Gefahr nun auch nicht, dass ich in meiner Wohnung vergammel.
Ich gehe durchs Viertel. Ich bin eine große Umhergeherin.
Umhergeher sind, anders als Spaziergänger, keine Menschen, die sich sagen: «Jetzt aber mal in die Natur! Sich etwas Gutes tun!» Sie ziehen keine wasserfesten Schuhe mit Profilsohle und eine winddichte Outdoorjacke mit herausnehmbarem Innenfleece an und gehen in den Wald. Oder an den Fluss. Oder an sonst einen Ort, der im Verdacht steht, dem gestressten Städter erbauliche Stunden abseits des sinnesüberflutenden Alltags zu bescheren. Umhergehen erfüllt keinen Zweck, nicht den der Erholung und auch nicht den der seelisch-körperlichen Erbauung. Als Umhergeherin wandere ich durch die Gegend und verbringe meine Zeit damit, kein Ziel zu haben, nicht einmal das der Erholung.
Im Urlaub, besonders bei Städtereisen, praktiziere ich diese Form des aktiven Verweilens ausgedehnt und zügellos. Menschen, die planen und ihre Zeit mit etwas Nützlichem verbringen, die gerne zu Hause erzählen, was sie gemacht und erlebt haben, die etwas in den Händen halten möchten, wenn sie wieder heimkehren, treibe ich damit in den Wahnsinn. Ich selbst bin allerdings äußerst zufrieden mit meiner Umhergeherei, bei der ich keine besonderen Orte suche, sondern bei denen ich mich von ihnen entdecken lasse.
Ich folge der Straße in die Richtung, in die Schmidtchen und Lisbeth gedeutet haben. Ich entdecke ein Krankenhaus, eine Eisdiele und den russischen Supermarkt «Gastronom». Außerdem die kleine Änderungsschneiderei Irina, ein Lotto-Geschäft, einen Bäcker, einen Schlüssel-Service und ein Ladengeschäft für «Textilpflege und Heißmangel», geöffnet von morgens um 8 bis mittags um 12 Uhr, nachmittags von 15 bis 18 Uhr, mittwochnachmittags geschlossen. Im Schaufenster stehen Trockenblumen und ein antikes Bügeleisen. Es riecht nach Stärke und Waschmittel.
Ein gebeugtes Mütterchen in einem geblümten Hauskittel schlurft mit einer Einkaufstasche auf mich zu. Als die Frau den Kopf hebt und mich entdeckt, bleibt sie stehen, greift in ihre Tasche, holt mit krummen, arthritischen Händen eine
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-Zeitung heraus und drückt sie mir in die Hand. «Hier», sagt sie, «habe ich übba! Hat mir zwei gegeben.» Dann zieht sie weiter. Ich blicke ihr nach, wie sie schleppenden Schritts, der Rücken gekrümmt, in Richtung «Gastronom» davongeht.
«Schweinegrippe! Alle Infos! Alle Hintergründe!» steht in der Zeitung. Ich klemme sie mir unter den Arm, gehe weiter, an einem Schuhmacher, einer Kneipe, einem Sanitärfachhandel und einem Geschäft für «Schlesische Wurstwaren und alles aus Polen» vorbei, über eine Brücke, die über Schienen und die zwei Gleise des Bahnhofs «Dortmund-Hörde» führt, und stehe plötzlich inmitten einer Fußgängerzone. Um einen Platz reihen sich eine Bank, eine Kneipe, ein Bäcker und noch eine Kneipe. Ein Zoo-Fachhandel wirbt mit «Kleintierstreu im Presspack, 56 Liter, nur 1 , 99 Euro!!!» und «Goldfische im Angebot: Kauf 3 , zahl 2 !!!». In der Mitte des Platzes steht eine riesige Laterne, die sich oben in drei Leuchten teilt. Sie trägt das Wappen des Ortsteils und eine Uhr, die anzeigt, dass es kurz nach zwei ist. Daneben die elektronische Tafel der Stadtbahn: Die U-Bahn nach Lünen-Braumbauer, über Dortmund-Stadtgarten und Dortmund-Hauptbahnhof, fährt in drei Minuten.
Ich beschließe, nach Hause zu fahren. Ich habe genug gesehen. Hier möchte ich in Zukunft leben.
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Erbsensuppe für Stan Libuda
Ich bin im Bad, als es an der geöffneten Tür klingelt. Dort steht Schmidtchen in einem blauen Frotteejogger und hält einen großen Topf in der Hand. Hinter ihm winkt Lisbeth schüchtern in meine Richtung. Schmidtchen deutet mit seinem Kinn auf den Suppentopf. «Wir bringen euch ’n bissken watt zu beißen. Wo ihr doch den ganzen Tach am Malochen seid.»
Ich gehe zu ihm und nehme ihm den Topf ab. «Das ist aber nett», sage ich. «Kommen Sie doch rein.» Mit meinem Ellbogen mache ich eine einladende Geste in die Wohnung. Ich stelle den Topf auf dem Herd ab und blicke kurz hinein. Erbsensuppe.
«Hier sieht’s ja aus wie Kraut und Rüben», stellt Schmidtchen fest, stemmt seine kleinen, faltigen Hände in die Seiten seines Joggers und dreht sich einmal im Kreis wie eine übergewichtige
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