Da gewöhnze dich dran
empfinden, kam mir nicht in den Sinn; ich zog nicht einmal in Erwägung, dass die Vereinigung willentlich geschieht. Vielmehr stellte ich mir vor, dass des Nachts, während Mann und Frau nebeneinander im Ehebett schlafen, der Penis zufällig in die Scheide rutscht, je nachdem, wie das Paar sich bettet. Diese Theorie warf allerdings mehr Fragen auf, als sie beantwortete, denn bei uns zu Haus war es üblich, mindestens in Unterwäsche zu schlafen. Wie aber kann ein Penis zufällig in eine Scheide rutschen, wenn Baumwolle dazwischen ist? Mein Vater hatte erwähnt, dass der Penis groß und hart würde. Möglicherweise entwickelte er ein Eigenleben. Schob er die Unterhose fort? Bohrte er sich hindurch? Das musste es sein! Zumal meine Mutter, ein sparsamer Mensch, Unterhosen mit Löchern immer als Putzlappen verwendete. Jedes Mal, wenn meine Mutter nun einen ihrer Schlüpfer zum Putzlappen schnitt, wusste ich, was in der Nacht zuvor geschehen war.
Ein weiterer Irrtum, dem ich in meiner Kindheit jahrelang unterlegen hatte, war Tennis. Damals, als Martina Navratilova noch Tennis spielte und Bum Bum Boris zum ersten Mal Wimbledon gewann, fragte ich meinen Vater, was das Ziel dieser Sportart sei – das Hin- und Herschlagen des Balles erfüllte aus meiner Sicht keinen Zweck. Mein Vater antwortete spontan und sehr ernst, Ziel des Spiels sei es, den Ball in die Pfosten zu befördern, an denen das Netz befestigt sei. Sie seien von innen hohl. Derjenige Spieler, dessen Pfosten zuerst voll sei, habe gewonnen. Ich beobachtete jede Partie nun genau, konnte jedoch keinerlei Anstalten bei den Spielern erkennen, mit dem Ball die Pfosten anzusteuern. Nun gut, dachte ich mir, vielleicht ist das Befüllen der Pfosten das letztendliche Ziel, möglicherweise muss der Spieler bis dahin aber einige Aufgaben erfüllen, zum Beispiel jede der vielen Linien mindestens einmal treffen. Ich analysierte die Spiele und stellte fest, dass dies eine Lösung war, die sehr viel Sinn machte. Doch trotzdem – die Sache mit den Pfosten blieb schleierhaft. Es waren schon etliche Grand Slams vergangen, als ich meinen Vater noch einmal darauf ansprach. Entrüstet blickte er mich an und meinte: «Wer hat dir denn den Quatsch erzählt?» – «Du.» – «Ich? Blödsinn.»
Der dritte Irrtum hieß Roman. Roman war der Bruder von Christina, beide wohnten am Ende unserer Vorstadtsackgasse mit den Reihenhäusern, weshalb wir uns oft im Wendehammer trafen, um dort Fangen und Hüpfkästchen zu spielen. In der Stadtbücherei standen viele Bücher, die Roman geschrieben hatte. Mir war klar, dass es nicht Christinas Bruder gewesen sein konnte, der all diese Bücher verfasst hatte. Wahrscheinlich war es nicht einmal ein und derselbe Roman. Doch trotzdem: So viele unterschiedliche Bücher, und alle hatten etwas mit einem Roman zu tun.
«Mama», fragte ich meine Mutter, «warum heißen alle Schriftsteller Roman?»
Sie verstand erst, als ich auf einen Buchtitel zeigte, und lachte.
«Aber Kind», sagte sie. «Das heißt doch nicht Roman», betont auf der ersten Silbe, «sondern Roman», zweite Silbe mit langem A, «so heißt das Buch.»
Aber das Buch hieß doch «Die Dornenvögel»?! Genauso wie mit Roman erging es mir mit Regie, der Schauspielerin, die in jedem Film mitspielte.
Zu guter Letzt dann die Sache mit dem Christkind. Nach dem Frühstück am Heiligen Abend brachen mein Vater und ich stets zu vorgeschobenen Erledigungen auf und aßen danach in einer Pommesbude zu Mittag. Beides war eine Attraktion: mit meinem Vater einkaufen gehen und Pommes essen – und deshalb schon für sich genommen ein Geschenk. Wenn wir am frühen Nachmittag nach Hause zurückkehrten, waren wir bis zum Stehkragen voll mit Ketchup und Fritten, und das Wohnzimmer war still, dunkel und abgeschlossen. Für den Rest des Nachmittags saßen wir in meinem Kinderzimmer auf kleinen Stühlen, tranken Kaffee, aßen Plätzchen und spielten Spiele. Mein Vater schlief, der Schnitzelstarre erlegen, auf meinem Kinderbett ein und schnarchte. Als wir am Abend nach der Messe nach Hause kamen, verschwand meine Mutter sofort im Wohnzimmer, um dem Christkind beim Kerzenanzünden zu helfen. Weil Durchs-Schlüsselloch-Gucken verboten war und Fehltritte streng geahndet wurden, saß ich in der Küche auf der Arbeitsplatte und baumelte nervös mit den Beinen. Erst wenn Mutter und Christkind fertig waren, bimmelte ein Glöckchen, und ich durfte eintreten. Bald erreichte ich ein Alter, in dem ich mir gewisse Fragen
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