Da gewöhnze dich dran
dich schlagen und so. Dann macht der dir ’n Kind, haut dir eins in die Fresse, und du hockst zu Hause, weil du Hartz IV hast und voll devot bist. Und das alles nur, weil du immer brav warst. Weil: Das polt dich um im Hirn. Deswegen besser jetzt voll Streit mit den Eltern haben und hinterher glücklich mit ’nem Kerl.»
Als ich aussteige, steht Björn auf dem Bahnsteig. Er umarmt mich und hält mich lange an sich gedrückt. «Ich freue mich, dass du gekommen bist», sagt er, nimmt meine Hand und führt mich vor dem Bahnhof zu seinem Auto. Wir fahren durch Essen.
«Wo fahren wir hin?», frage ich.
«Lass dich überraschen», sagt er.
Er steuert in Richtung Gladbeck, biegt aber vorher ab. Sozialwohnungen säumen die Bundesstraße. Die Fassaden sind grau. Die schneegetränkte Luft liegt schwer auf der Stadt. Verschleierte Frauen schieben Kinderwagen über die Bürgersteige. Ein Container des Umweltamtes blockiert zwei Parkplätze und misst den Feinstaub. Ein Schild weist den Weg nach Katernberg. Die Straßenbahn heißt hier «Kulturlinie 107 ». An der Haltestelle «Zollverein» biegt Björn auf einen Parkplatz ab. Ein Förderturm reckt sich in das Weiß des wolkenverhangenen Himmels.
«Wir besichtigen eine Zeche? Heute, an Weihnachten?», frage ich.
«Wart’s ab.» Er nimmt meine Hand, und wir gehen hinüber zu einer Eislaufbahn am Fuße rostigen Stahls, angestrahlt von Scheinwerfern in Weiß und Rot. Hunderte Menschen fahren mit kratzenden Kufen das Eis auf und ab, gleiten im Schatten der riesigen Kokerei vorbei an Mauern und Rohren, Backstein und Stahl, unter Brücken hindurch, auf die Fördertürme zu und von ihnen fort. Bänke säumen die Strecke. Kinder ruhen sich auf ihnen aus, Liebende sitzen da und küssen sich. Schnee türmt sich in ihrem Rücken, hat den Rost gezuckert und die Bahn gepudert. Trotz der vielen Menschen ist es leise: die Schlittschuhe, vereinzelte Stimmen, leises Lachen. Aus Lautsprechern klingt zart Musik.
«Wow», sage ich.
Björn nimmt meinen Kopf in seine behandschuhten Hände und küsst mich. «Gefällt es dir?»
«Ich wusste gar nicht, dass man Industrieschrott so nett herrichten kann.»
«Ein bisschen mehr Respekt bitte.» Er knufft mich in die Seite. «Das ist ein Weltkulturerbe.»
«Lass uns Schlittschuh laufen», sage ich und ziehe ihn zur Fahrbahn.
Wir ziehen Schlittschuhe an und gleiten auf die Bahn. Björn greift meine Hand und zieht mich mit behändem Schwung zu sich heran.
«Schön hier?», fragt er und küsst mich.
«Sehr schön hier», sage ich.
Die Musikanlage spielt «Last Christmas», wir fahren weiter, unter Rohren und Lichtern hindurch, die Industriebrache ist ein riesiges, friedliches, mit Schnee geschminktes Ungetüm. Wir weichen einem kleinen Mädchen aus, das einen kleinkindgroßen Plastikpinguin vor sich herschiebt und trotzdem hinfällt. Wir umarmen uns wieder, küssen uns.
Später sitzen wir mit erhitzten Wangen im Auto. Meine Augen brennen. Björn reicht mir eine Flasche Wasser.
«Und jetzt?», frage ich.
«Jetzt bringe ich dich nach Hause.»
«Och», sage ich und weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Die Schneeluft, die Musik, die Atmosphäre an der Zeche, ich bin noch beseelt, möchte den Moment festhalten. Doch Björn lässt den Motor an. Wir gleiten vom Parkplatz, Schnee knirscht unter den Reifen.
Der Nebel des Abends, der sich wie Watte in die Straßen legt, zerstreut das Licht der Ampeln, macht rote, grüne und gelbe Sterne aus ihnen. Die Straßenlaternen leuchten in trübem Orange. Wir biegen erst rechts ab, dann links, ich schweige. Er bringt mich tatsächlich nach Hause, bringt mich fort von sich.
«Bleibst du gleich noch?», frage ich, und noch während die Worte meinen Mund verlassen, wünschte ich, ich hätte es nicht getan.
«Nessy», setzt Björn an, und ich weiß, dass er jetzt etwas sagt, das ich nicht hören möchte. Wir biegen auf die A 40 ab. Die Schilder weisen uns den Weg nach Dortmund.
«Ich brauche etwas Zeit für mich», sagt Björn.
«Das hast du schon mal gesagt.»
«Ich verstehe nicht, dass ich das immer wiederholen muss.»
«Warum lädst du mich dann zum Eislaufen ein?»
«Ich mag dich.»
«Da war auch schon mal mehr als nur ‹ich mag dich›.»
«Siehst du.»
«Was?»
«Du setzt mich unter Druck. Ich verbringe gerne Zeit mit dir. Aber eben nicht alle Zeit, die ich habe. Und leider habe ich im Moment echt wenig Zeit.»
Ich sage nichts mehr. Schweigend fahren wir durchs Dunkel. Essen-Kray,
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