Da gewöhnze dich dran
rufe ich, reibe meine schmerzenden Finger und stoße mich von der Wand ab – eine Wand mit dem Schwierigkeitsgrad drei, die ungefähr, verglichen mit dem Fahrradfahrenlernen, die Zahl sagt es schon, das Dreirad des Kletterns darstellt. Etwas Einfacheres gibt es in dieser Halle nicht, alles andere wäre spazieren gehen.
Als ich unten bin und meine Hände ausschüttele, umfasst Thorsten meine Schulter und zeigt auf die Wand. «So. Jetzt guck mal. Links, rechts, links, rechts. Die Boards sind wie eine Leiter angebracht.»
Tatsächlich. «Fühlt sich nicht so an, wenn man draufsteht», sage ich.
«Du bist zu verkrampft. Und zu hektisch. Nimm dir Zeit.»
«Je mehr Zeit ich mir lasse, desto länger muss ich mich festhalten. Es fühlt sich ja jetzt schon an, als hätte ich Zementsäcke in den fünften Stock geschleift.»
Er hält mich noch ein bisschen an der Schulter fest, ein bisschen zu lang, um nur mitfühlend zu sein. Dann nimmt er meine Hand und massiert sie. «Du kannst dich auch einfach mal in den Gurt zurücklehnen und ausruhen. Ich halte dich. Danach kletterst du weiter.»
Melanie, die meine Versuche bislang stumm verfolgt hat, räuspert sich. «Wie sieht’s aus, ihr zwei Süßen – darf ich getz auch ma?»
Ich knote mich aus dem Sicherungsseil los, und Mel macht sich an den Aufstieg. In ihrem roten T-Shirt hat sie etwas Marienkäferartiges. Schon nach dem dritten Tritt streckt sie ihren Hintern vor und lässt sich ins Seil fallen. Sie schwebt vor mir auf Kopfhöhe, die Hände in die Hüften gestemmt.
«Alta, is dat anstrengend!», raunzt sie.
«Los, weiter!», kommandiert Eichhörnchen. «Du hast ja noch nicht mal angefangen!»
«Denk an Jürgen!», rufe ich.
Melanie klemmt sich wieder an die Wand, doch nach zwei weiteren Zügen legt sie erneut den Kopf in den Nacken und blickt auf uns hinab.
«Nää», ruft sie, «dat geht nich mehr. Keinen Meter. Lass mich runter!»
«Klar geht das noch!» Eine Männerstimme erklingt plötzlich neben mir. Sie gehört zu einem glatzköpfigen Typen in Trekkinghose und Shirt, der Blick ein bisschen verlebt, die Wangen leicht hängend, aber sonst fidel. Seine Unterarme sind wie Baumstämme. Von links hat er sich an uns herangeschlichen. Er ist bestimmt schon fünfzig.
«Greif mal links und steig mit dem rechten Fuß hoch», sagt er.
Mel schaut durch ihre Beine hindurch auf ihn hinab. Ihre Augenbrauen sind grimmig zur Nasenwurzel gezogen. Sie richtet sich auf und zieht sich an zwei Griffen hoch.
«Geht doch», sagt der Baumstamm. Er stemmt die Hände in die Hüften und sieht zu ihr hinauf.
Melanie klettert mit einem Mal erstaunlich behände die Wand empor.
«Taffes Weib», sagt der Baumstamm. «Aber erst muss einer kommen und ihr in den Hintern treten. Oder?»
Er sieht mich an. Ich hebe die Augenbrauen und wiege zurückhaltend den Kopf hin und her.
Thorsten zieht mit jedem von Melanies Klimmzügen das Seil nach, bis sie oben angekommen ist.
«Zufrieden?», brüllt sie von oben herunter.
«Jep», ruft Eichhörnchen.
«Dich meinte ich nich! In meinte den andern!»
Der andere grinst. «Kannst absteigen. Aber verletz dich nich.»
Von oben kommt nur ein «Pffff!», und Thorsten lässt Mel die Wand hinunter.
Wir wechseln zu einer anderen Wand, einer Wand mit leichter Neigung, sodass unser Aufstieg nicht ganz senkrecht ist. Es geht sogleich leichter, ich hieve mich ohne Probleme bis unter die Decke. Ich fühle mich dabei zwar wie ein dicker Bär, der sich den Baumstamm hoch zum Bienennest robbt, aber es macht erstaunlich viel Spaß. Melanie unternimmt ebenfalls einen zweiten Anlauf, der Baumstamm, der Helmut heißt, sichert sie. Behände wie eine Gämse, mit geschmeidigen Bewegungen und ohne einmal innezuhalten, klettert sie bis unter die Hallendecke.
Helmut sichert dann auch Thorsten, der sich ruhig und überlegt an der Wand bewegt. Er arbeitet viel aus den Beinen, setzt seine Schritte mit Bedacht, macht, wo es möglich ist, kleine, vorsichtige Bewegungen, nutzt andernorts seine Spannweite, greift weit vor, arbeitet mit der Länge seiner Arme und Beine. Einmal steht er auf einem winzigen Vorsprung, wechselt mit einem Sprung behände das Standbein und windet sich um die Ecke einer Wand. Mir fällt auf, wie groß und beweglich er ist, wie definiert seine Unterarme sind. Ich habe bislang nicht bemerkt, wie selbstsicher er sich bewegt; souverän und besonnen hängt er in der Wand, ich sehe, wie die Route ihn anstrengt, trotzdem haftet er stoisch auf den Griffen,
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