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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
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schiebt ihre Zähne zurück in den Mund und saugt sie fest. Klackernd rasten sie ein. «Nicht gut», sagt sie.
    Ich überreiche ihr mein Geschenk: einen Abreißkalender, jeden Tag ein Blättchen mit der Tageslosung, so kann sie jeden Morgen mit befriedigendem Eifer zur Wand gehen und dem vergangenen Tag mit einem beherzten Ruck adieu sagen. Wieder ein Stück näher am ewigen Leben!
    Unsaomma schenkt mir eine Weihnachtskarte mit zehn Euro drin. «Kauf dir was Schönes, woll», sagt sie. «Damit du dich an mich erinnerst, wenn ich mal nicht mehr bin.»
    Später kommt Tante Gertrud hinzu. Wir unterhalten uns über ihre Tochter, meine Cousine Denise, die seit kurzem in Hamburg mit einer Frau zusammenlebt.
    «Eine Chfrau?», fragt Unsaomma. Ihr neues Gebiss lässt bei bestimmten Buchstaben pfeifend Luft durch.
    «Ja, Mutti», sagt Gertrud. «Die Denise ist jetzt lesbisch.»
    «War ich im Krieg auch», sagt Unsaomma. «Das gibt sich wieder. Aber Kinder machen die nicht, oder?»
    «Nein, Mutti, noch nicht», sagt die Tante. «Ihre Freundin ist ein ganz liebes Mädchen. Sie war Heiligabend bei uns.»
    «Ja dann.» Unsaomma windet sich in ihrem Sessel und lässt krachend einen fahren.
    «Mutti!»
    «Omma!»
    «Och», sagt sie und blickt uns mit großen Augen an. «War doch ganz leise.»
    Eine SMS von Björn kommt: «nicht vergessen: morgen um vier. ich freu mich auf dich!»
    «Deine neue Liebe?», fragt Tante Gertrud.
    «Ich freu mich auch!», schreibe ich zurück, bin mir aber selbst nicht sicher, ob ich es auch meine, zu verunsichert bin ich seit einigen Wochen, seit dem Marathontag, seit der Zauber verflogen ist, seit er immer öfter Ausreden hat, mich nicht zu treffen. Zu aufgekratzt bin ich auch seit dem Kletterabend mit Thorsten, diesem überraschenden Ausklang im Schnee, diesem Kuss, der mehr war als ein Freundschaftsbussi, den er mir aufgedrückt und gegen den ich mich nicht gewehrt habe. Ich schäme mich dafür, dass ich ihn habe geschehen lassen. Ich fürchte mich vor dem nächsten Arbeitstag mit ihm. Ich mag ihn – aber nicht so. Oder doch? Nein, es ist Björn, den ich vermisse, den Björn der ersten Begegnung, der Wochen im Herbst.
    «Nach Neujahr», setzt Unsaomma an, «müssen wir zum Chfriedhochf.»
    «Aber wir waren doch gestern erst beim Vatta», sagt Tante Gertrud.
    «Nicht wegen dem Vatta. Ich will mir was Eigenes aussuchen.»
    «Du willst dir ein Grab aussuchen? Aber du kommst doch bei Oppa bei», sage ich.
    Unsaomma schüttelt den Kopf. «Da ist es zu schattig. Wenn ich schon tot sein muss, möchte ich Sonne. Außerdem will ich an den Rand. Sonst fühle ich mich so beengt.»
    «Ach Omma», sage ich. «Das hätte ich fast vergessen!» Ich ziehe ein DIN -A 4 -Blatt aus meiner Handtasche und halte es ihr hin. «Das wolltest du doch haben.»
    Unsaomma nimmt das ausgedruckte Foto von Fürstin Charlène von Monaco und nickt wohlwollend. «Da», sagt sie und zeigt auf die leere Stelle Raufaser zwischen mir und Prinzessin Victoria.
    Mit zwei Heftzwecken pinne ich das Bild an die Wand. Dann sitzen wir schweigend da. Die Heizung bollert und gluckert und faucht. Die Blätter des Drachenbaums, der sich mit spirreligen Ästchen über die Brüstung der Fensterbank lehnt, flattern in der aufsteigenden Hitze. Die Weihnachtspyramide daneben dreht wilde Kreisel, ohne dass eine Kerze brennt.
    «Ist kalt hier, woll?», fragt Unsaomma.
    «Nee», sage ich.
    «Was?»
    «Es ist sehr warm!»
    «Was?»
    «Warm! Hier!»
    Unsaomma klemmt, ein bisschen frostig, ein bisschen trotzig, ihre Hände unter den Achseln fest und lässt ihren Kopf auf die Brust sinken. Es ist 17 Uhr. Heute Morgen war schon Weihnachtsgottesdienst, dann Festessen, dann kamen wir. Ein Tag ohne Mittagsschlaf ist für Unsaomma ein schlechter Tag. Gegen 18 Uhr verabschiede ich mich.

    Am zweiten Weihnachtstag setze ich mich in den Regionalexpress nach Essen. Der Zug ist voll. In dicken Winterjacken und mit Geschenken auf dem Schoß sitzen die Leute in Zweier- und Vierersitzen. Die Scheiben sind beschlagen. Kondenswasser läuft herab. Ein alter Mann probiert neue Klingeltöne an seinem Handy aus. Kinder spielen auf kleinen Konsolen. Hinter mir höre ich, wie ein Mädchen zu seiner Freundin sagt: «Es ist voll wichtig, dass du nicht auf deinen Vatta hörst. Denn wenn du jetzt lieb bist und gehorchst und so, dann ändert das deinen Geist. Dann wirst du willensschwach, so voll unterwürfig, verstehst du. Dann stehst du hinterher auf diese besitzergreifenden Typen, die

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