Da gewöhnze dich dran
schweben die Wolken unseres Atems, wir haben die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern hochgezogen. Kaum ein Auto fährt an diesem Abend. Es ist seltsam leise und seltsam privat hier auf dem Bürgersteig.
«Zur U 41 », sagt er und sieht mich lange an, «geht’s da lang, oder?» Er deutet hinter meinem Rücken die Straße hinunter, doch sein Blick schweift über mein Gesicht, über meinen Mund, zurück zu meinen Augen. Es ist nur ein Wimpernschlag, mit dem er sich senkt und wieder hebt.
Ich nicke.
«Na dann», sage ich, und meine Stimme zittert leicht. Eine Windböe treibt Schnee über die Straße und verweht ihn zu einem tanzenden weißen Handtuch. Es ist jetzt kalt hier draußen.
«Schlaf gut», sage ich. «Und danke. War eine gute Idee. Hat Spaß gemacht.»
«Schlaf gut», sagt er, geht aber nicht – sondern bleibt mir gegenüber stehen, legt den Kopf schief, schaut mich weiter an. Es ist wie in diesem Spiel: Wer als Erstes wegschaut, hat verloren. Ich verliere.
«Was ist?», fragt er.
«Was guckst du mich an?», frage ich zurück.
«Du guckst weg.»
Ich verliere bei diesem Spiel immer, ohne Ausnahme – schon seit ich drei bin. Solange der Gegenüber nur guckt, geht’s, aber sobald er zwinkert, die Augen weitet, sobald er lächelt, eine Grimasse zieht, die Brauen hebt, den Kopf bewegt, ist Schluss mit der Selbstbeherrschung.
Ich sage noch einmal: «Es war ein schöner Abend.»
Er nickt bedächtig. «Finde ich auch.»
«Komm her», sage ich, breite meine Arme aus, wir umarmen uns kurz und legen kurz unsere Wangen aneinander. Seine ist warm und ein bisschen stoppelig. Er riecht nach Schnee, nach Kletterhalle und nach dem Tag, der zu Ende geht.
«Bis morgen», sagt er.
«Bis morgen», sage ich.
Dann, in diesem kleinen Moment, in dem wir voneinander lassen, in dem wir uns aber noch nicht wieder freigegeben haben, in dem unsere Gesichter auf dem Rückzug sind, wir uns aber noch festhalten, beugt er sich kurz vor und küsst mich hastig. Der Kuss verrutscht ein bisschen, er trifft meinen Mund, ein bisschen auch mein Kinn, es liegt daran, dass ich erschrecke – nicht viel, nur ein wenig, aber genug, dass ich zucke.
«Huch», sagt er.
«Huch?», antworte ich.
Er lächelt. Seine Wangen, seine Stirn, die Haut über seiner Stirn, seine Ohren, alles glüht rot.
«Komm», sagt er. «Noch mal richtig.»
Dann nimmt er meinen Kopf in beide Hände, seine Hände sind ganz kalt, er küsst mich, seine Lippen sind weich und gleichzeitig gespannt.
«Frohe Weihnachten», sagt Thorsten, als er mein Gesicht loslässt und die Hände in seine Jackentaschen steckt. «Wir sehen uns im neuen Jahr.»
«Hast du morgen frei?», frage ich.
«Resturlaub.»
Dann ist er nicht im Büro. Dann sind nur Melanie und Sedat da, denn Kaminski ist schon in der Steiermark, Winterferien. Ich blicke zu Boden, denn Thorsten sieht mich auch weiterhin unvermindert an, und dieses Spiel – ich kann das einfach nicht gut.
«Dann frohe Weihnachten», sage ich. «Und guten Rutsch.»
«Bis zum neuen Jahr», sagt Thorsten und stapft an mir vorbei durch den Schnee, der unter seinen Füßen knirscht. Ich schaue ihm hinterher. Er dreht sich noch einmal um, grinst, greift dann in seine Jacke, holt eine blaue Strickmütze heraus und zieht sie sich über den Kopf. Dann schiebt er seine kalten Hände in seine Hosentaschen, zieht die Schultern hoch und stiefelt mit federnden Schritten davon.
Als ich die Haustür aufschließe, öffnet sich Schmidtchens Küchenfenster, und er beugt sich zu mir hinaus.
«War dat schon dat Christkind?», fragt er.
«Nee», sage ich und lache.
«Dat war abba nich der junge Mann von letztens», konstatiert er, stolz über seine Findigkeit.
«Nee, das war ein anderer.»
Ich lächle unverbindlich, sage «Schönen Abend noch» und gehe ins Haus.
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Weihnachten
Das Christkind ist einer von vier grundlegenden Irrtümern, denen ich als Kind unterlag. Die anderen drei sind Sex, Tennis und Bücher.
Zwar wurde ich schon früh aufgeklärt, wie es sich mit dem Kinderkriegen verhält, allerdings nicht, was die Details der zwischenmenschlichen Vereinigung anging, sondern nur, was die grundsätzliche Mechanik betraf. So erklärte mir mein Vater, dass Kinder entstehen, indem der Penis des Mannes den Weg in die Scheide der Frau findet. Seine Erläuterung war derart allgemein gehalten, dass die Begleiterscheinungen völlig außen vor blieben: Dass Mann und Frau bei diesem Vorgang Freude
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