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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
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anderen die Endgültigkeit des Verlusts manifestiert. Deshalb ist es auch dieser Augenblick, in dem Schmidtchen alle Contenance verliert, das verstohlene Augenwischen und das lautlose Weinen sein lässt und dumpf zu schluchzen beginnt. Petra hat ihn untergehakt und hält einen Schirm über ihn. Zu zweit stehen sie vor dem Grab, fast hängt er an ihrem Arm.
    Neben dem Grab liegen Tulpen in einem Ständer. Er greift schließlich nach einer. Die Sargträger haben sich zurückgezogen, stehen nun am Rand, professionell betroffen, die Hände vor dem Körper verschränkt, die Köpfe gesenkt, Wasser läuft ihre Zylinder hinab. Schmidtchen lässt die Tulpe hinunterfallen zu seiner Frau, dann greift er zur Schaufel und wirft nasse Erde hinterher. Ein Platschen. Das Prasseln der Tropfen. Die Nässe kriecht in die Glieder. Ich schmecke salzige Tränen. Warmer Rotz läuft mir aus der Nase. Mit einem Mal bin ich traurig, sehr traurig.
    «‹Vatta!›, hat meine Tochta am Dienstach zu mir gesacht, ‹getz musse dir aber ma wat weißes Hemd kaufen für die Beerdigung vonne Mutti›», erzählt Schmidtchen mir beim Kaffeetrinken. Seine Wangen sind rosiger als noch vor einer Stunde, die Tränen sind versiegt, nur die Leere in seinen trüben Augen ist geblieben.
    «Da bin ich im Kaufhof und hab mir wat weißes Hemd gekauft. Aber guck ma, Etteken», er zieht den Arm aus dem Jackett, «hab ich wat für ’n Sommer erwischt. War dann doch wat kalt am Grabb!» Er lacht und gibt mir einen Stupser.
    Wir sitzen im Hinterzimmer einer Kneipe. Grauer Linoleumboden, gelbgerauchte Häkelgardinen, die schwere grüne Flagge der Schützenbruderschaft – Glaube, Sitte, Heimat. Eichentische reihen sich zu einem U aneinander, ein anderes U als das U in der Innenstadt, ein U ohne Videoprojektionen und Kunst, das U von gestern, nicht das U von morgen. Auf mit Tortenspitzen verzierten Silbertabletts werden Brötchenhälften gereicht, dick mit Gutebutter beschmiert, belegt mit Scheibenkäse, mit Cervelatwurst, bestrichen mit Zwiebelmett, mit einer Garnitur aus Silberzwiebel und Gewürzgurkenscheibe. Dazwischen Streuselkuchen, Kännchen Kaffee. Die Bedienung in schwarzem Rock, mit gelben Zähnen und welker Haut, sie raucht ohne Filter, das sehe ich, das rieche ich. In der Vitrine gegenüber den gardinenverhangenen, mit pflegeleichten Sukkulenten zugestellten Fenstern hocken metallene Vögel auf Marmorsockeln, «Beste Pfeife 1984 », «Beste Knorre 1992 » und der «Rassesieger 1995 », mit Eichenlaub umkränzt.
    Ich habe ein halbes Brötchen mit Mortadella gegessen. Gabi sitzt mit Petra neben den Ziervogelpokalen und hält ihr die Hand. Kalle ist zu Hause geblieben. «Wennze so viele Leute hass, dat macht den ganz fickerich, dann krichta imma ’n Flotten und kackt aufs Parkett. Reizdarm, kennze, ne?»
    Die Mickenbäckerin klönt mit dem Trinkhallenmann, einem Mann um die 50 mit mediterranen Wurzeln. Die Natur hat ihm übel mitgespielt, sein halsloser Kopf hat die Form eines Luftballons, sein linkes Auge schaut nach rechts, sein rechtes nach links, und beide ähneln denen eines Chamäleons: Sie rotieren außerhalb ihrer Höhlen. Ich habe mehrmals bei ihm eingekauft. Alles kostet eins zehn, die Flasche Wasser, der Schokoriegel, die Zitronenbrause. Auf Nachfrage hat er mir sein Geschäftsmodell erklärt: «Eins zehn iste gute Preis – eins zehn, zwei zwanzig, drei dreißig, kapieren die Leute. Und kucksdu: Cola ist bei mir immer große Cola, iste immer eins Komma fünf. Denken die Leute: Oh, so große Cola, so billig, iste super! Aber! Bier iste eine kleine Flasche, iste nur null drei, kostet trotzdem eins zehn. Mit Bier und Cola iste nämlich so: Bier trinken die Leute, weil sie müssen trinken Alkohol, Cola trinken sie für Genuss. Muss iste teuer, Genuss iste billig. Große Geschäft für mich.»
    Schmidtchen sitzt am Kopf des U. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und schaut der Beerdigungsgesellschaft beim Parlieren zu, all den Menschen, die gekommen sind, um ihm zu kondolieren, die aber jetzt, da sie bei ihm sind, nicht den Mut haben, an seiner Seite zu sein, seiner Trauer zuzuhören.
    Ich setze mich zu ihm. Zwei Tage nach dem Tod seiner Frau, sagt er, habe er zum ersten Mal gekocht: Bratkartoffeln. «Ich hab dat Pittermesser genommen und Knollen geschält. Zum ersten Mal in meim Leben. Hab dann bei Gabi geschellt und gefracht, wat da sonst noch bei muss, bei den Knollen. Hat gut geschmeckt. War nur ’n bissken wat wenig. Dat hatte meine Frau

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