Da hilft nur noch beten
Mittenwalde (Mark) die ersten Strophen seines großen Liedes des Trostes und des Gottvertrauens Befiehl du deine Wege «entquollen» waren, so Fontane wörtlich, und Mannhardt rümpfte ein wenig die Nase über solches Deutsch, wurde aber, gerade im Zusammenhang mit Yemayás ungewissem Schicksal, merkwürdig angerührt, als er las, mit welchen Worten Gerhardt auf seine Berufung zum «Diakonus» der Berliner Nicolaikirche reagiert hatte: «Siehe wie Gott sorget. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.»
Und da geschah es, daß Mannhardt, der alte spöttische Sozi («… wenn jeder, der im Krieg gebetet hat, überlebt hätte…»), gleich einem Schizophrenen eine Stimme in sich hörte, gegen die er nicht ankonnte: «Lieber Gott, laß Yemayá wiederkommen.»
Er sprang auf, goß sich einen Whisky ein, stürzte ihn hinunter, verfluchte sich, daß er, Mitte der Fünfzig, mit seiner Kindheit noch immer nicht klarkam – und hoffte dennoch, daß seine magische Formel ihre Wirkung nicht verfehlte.
In dieser Sekunde begann das Telefon zu schrillen. Er fuhr zusammen, fühlte sich ertappt, verstand zuerst auch gar nicht, warum der rote Plastikkasten da so lärmte, war wie ein abgeschiedener Amazonasindianer, der einen solchen Apparat noch nie gesehen hatte, brauchte etliche Zehntelsekunden, um sich Funktionen und Zusammenhänge wieder klarzumachen, daß da einer war, der… DER KIDNAPPER! Er riß den Hörer hoch.
«Mannhardt, hier bei Criens…!» Ganz förmlich.
Jetzt konnte sich schon alles entscheiden. Doch nur ein hartes Knacken, dann sphärisches Rauschen, eine ungewisse Stille und plötzlich etwas, das in seinem Organismus höchste Alarmstufen auslöste: Babygeschrei.
«Hallo!?» schrie er. «Hallo, wer ist denn da!?»
«…ich bin’s, Entschuldigung! Aber mir ist gerade die Zigarette runtergefallen. Horst, mach doch mal den Fernseher leiser. Da schreit gerade so’n fettes Baby rum…»
«Ach, du bist es nur…»
«Was heißt hier nur?»
Mannhardt hatte Mühe, wieder mit normaler Stimme zu sprechen, seiner großen Erregung wieder Herr zu werden, und dieses um so mehr, als Stefanie, die war es nämlich, mit einer für ihn mehr als belastenden Frage ihr Gespräch fortsetzen wollte.
«Sag mal, vermißt ihr nichts?»
Tausend wirre Gedanken schossen Mannhardt durch den Kopf, legten sein Sprachzentrum sekundenlang lahm. Wie hätte es geschehen können, daß das Baby plötzlich bei Stefanie gelandet war? Gedächtnis verloren… Jessica hatte es zu Steffi rausgebracht und war dann… Sie war ja schon immer kurz vorm Ausflippen gewesen.
«Na, habt ihr wohl noch gar nicht nachgesehen?»
«Nein…» stieß Mannhardt hervor. «Was meinst du denn?»
«Du bist gut!» lachte Stefanie.
«Yemayá…?» fragte er vorsichtig.
«Wieso denn Yemayá…?»
Mannhardt schwitzte. «Ich versteh so schlecht, das ist so leise… Du hast doch gesagt, daß da ‘n Baby bei euch schreit…»
«Nein, das war bei mir im Fernseher!» schrie Stefanie.
«Ach so, entschuldige! Aber warum…?»
«Ich hab eben im Wagen bei mir eure Ausweise gefunden…»
«Ach, Je…!» Richtig, an der Grenze…! Die «Organe» hatten ihre Papiere in zwei Stapeln zurückgegeben, sie Stefanie und Jürgen in die Hände gedrückt und dabei offensichtlich die Wageninsassen verwechselt. «Hast du uns die in der Aufregung gar nicht wiedergegeben…»
«Ja, offensichtlich…»
Sie berieten noch ein Weilchen, wie sie ihre Papiere am leichtesten zurückerlangen konnten, denn für Westberliner Bürger war es Pflicht, ihre Personalausweise stets bei sich zu haben, andernfalls drohte ihnen, siehe alliierte Gesetze, sogar die Todesstrafe; auf dem Papier zumindest. Doch Mannhardt schaffte es nicht, ernsthaft über diese Austauschfrage nachzudenken: zu sehr quälte es ihn, wie normal das Leben anderswo verlief, während sie hier vor Angst und Verzweiflung nicht mehr ein und aus wußten. Yemayá, das durfte nicht sein! Andere gingen doch jetzt ganz ruhig ins Bett, lachten und tranken am Kudamm, knutschten rum und bumsten, schrien auf vor Lust, schliefen friedlich vor dem Bildschirm ein, gingen mit den Hunden ums Karree. Warum denn ausgerechnet wir…!? Alles nur ein böser Traum… Nein, eben nicht.
«Hörst du mir eigentlich noch zu…?»
«Du, entschuldige, ich bin so müde… Die zwanzig Kilometer durch die DDR, der Regen… Wir rufen morgen bei euch an… Du, entschuldige, es klingelt hier – Corzelius und Jessica! Die haben
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