Da hilft nur noch beten
Straßen, genoß es, Mitternacht und Geisterstunde, lonely wolf zusein, stranger in the night, verloren, don’t cry for me, Argentina. Viele Bistros, Pinten, Eßlokale gab es in der Uhlandstraße, Italiener, Türken, Böhmen, Kurden, Libanesen, Brasilianer, und überall saßen und tranken sie noch: all das verloren-glückliche Volk, das am nächsten Morgen nicht um vier, fünf oder sechs wieder aus den Betten mußte, um an Schreibtisch, Werkbank oder Wühltisch, in die Hände gespuckt, ihr und unser Bruttosozialprodukt mehren zu helfen. Der Beamte Mannhardt schalt sie Schmarotzer, Trittbrettfahrer, der Mensch Mannhardt beneidete sie: Gott, das waren doch Gesichter! Autonome Gesichter, nicht diese langweilig-gestylten Visagen der Jungen Union, Formhaarschnitt und Managerglätte darunter. Statt dessen Pickel, Bärte und ein leichter Hauch von AIDS, und ihm fiel ein, daß man als Kripomann heutzutage aufgerufen war, bei Schlägereien, Festnahmen und anderen hoheitlichen Akten mehr auf alle Fälle eines zu vermeiden hatte: den sogenannten Blutkontakt. Bei diesem Gedanken sah er sogleich die beiden größten Helden seiner Jugend vor sich auftauchen, Winnetou/Old Shatterhand, wie sie Blutsbrüder werden wollten – jeder ritzt sich in den Arm und trinkt das Blut des anderen – , aber erst einmal zum AIDS-Test mußten.
Er schreckte hoch, als er einen Mann mit einem Kinderwagen um die Ecke biegen sah, Uhlandstraße/Hohenzollerndamm, und das nachts um drei Viertel eins. Ohne sich weiter zu besinnen, lief er über die Fahrbahn und folgte dem Mann, der in der Tat irgendwie verdächtig wirkte. Nicht eben jung schien er mehr, schlampig gekleidet, beutelnde Hosen, eine sackartig-braune Jacke, viel zu große Schuhe, ging gebeugt, zog das rechte Bein ein wenig nach, und als er sich kurz einmal umdrehte, erkannte Mannhardt auf dem Revers seiner Jacke eine Reihe bunter Orden sowie die Wimpel von Blau-Weiß 90, Bayern München und noch eines andern Bundesligaklubs. Ein armer Irrer also, aber ob er wirklich harmlos war. Zuzutrauen war ihm schon, daß er Jessicas Baby…
Mannhardt geriet in immer größere Erregung, als der Mann nun an der Kreuzung mit der Güntzelstraße hielt und sich nach unten beugte, um das Kind im Wagen irgendwie zu streicheln, zu liebkosen. Genau vorm Schaufenster des Reisebüros «Helios», Ostblockreisen aller Art.
Mannhardt sprang los, legte die dreißig Meter, die ihn vom Kinderwagen trennten, fast in Ben Johnson-Tempo zurück, kam an und riß den Mann zur Seite und war sich seines Instinktes auch diesmal wieder ziemlich sicher, glaubte wirklich, dort unter den rosa Deckchen Yemayá zu sehen, konnte dann aber nicht anders, als mit einem lauten «Oh…!» weiterzulaufen…
… denn im Wagen lag kein Kind, sondern lediglich ein kleiner weißer Hund, ein Westhighland-Terrier.
Selig sind die Bekloppten, denn sie brauchen keinen Hammer mehr; selig sind die Bescheuerten, denn sie brauchen keinen Lappen mehr! Floskeln zur Situationsbewältigung, wie er sie vor fast fünfzig Jahren auf Berliner Schul- und Hinterhöfen gelernt hatte. So was bleibt in dir einprogrammiert, bis sie dich im Krematorium…
Krematorium, ah ja! Dieser Gedanke ließ ihn, ganz logisch, auf Grobi, auf Grobelny kommen, wie ihn Corzelius da mit einer Edelnutte im Sarg gesehen hatte, und das wiederum brachte ihn ebenso folgerichtig auf die Idee, doch mal in der schmucken Kneipe einzukehren, Nähe Kudamm, versteht sich, wo besagter Grobi als honoriger Gastronom um eine gutbürgerliche Identität bemüht gewesen war.
Also: auf, auf! Doch das schafften seine armen Füße nicht mehr, jetzt noch an die zwanzig Minuten bis nach Halensee hochzulatschen, und da er das Taxifahren langweilig fand, von den Kosten mal zu schweigen, ging er die Uhlandstraße so weit hinunter, bis er an den 4er kam, schaute an der Haltestelle nach, ob es noch und wann einen Bus in Richtung Westen/Westend gab. 0.53 kam der nächste, prima!
Er wartete und freute sich, wie der durchgesägte Mond überm Wilmersdorfer Volkspark hing und, so schien es jedenfalls, die Wega jagte. Noch immer überraschend viele Autos huschten, röhrten, preschten vorüber, und er schätzte den Prozentsatz der leicht angetrunkenen Fahrer auf mindestens dreißig bis vierzig; freie Fahrt für freie Bürger.
Es kam der Bus, und er geriet im Unterdeck in eine Klassenfahrt-Horde, ein gutes Dutzend ländlich-hübscher Wessi-Mädchen saß dort schnatternd herum, ließ ihn aufs Oberdeck flüchten, wo
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