Da hilft nur noch beten
kein Entrinnen gibt. BEAMTER: Sie sind festgenommen!
Jessica stand an eine Backsteinwand gelehnt, deren Farbe sie lebhaft an Saharasand erinnerte, war matt und abgeschlagen wie in der ersten Fieberphase einer schweren Grippe, wußte nicht mehr, wer sie war und wo sie war, konnte nicht mehr unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Film. War sie Jessica als solche, oder spielte sie sich selbst, war sie nur die Rolle Jessica?
Es war ein Platz, der sie sekundenlang an Arsenal/London denken ließ, an dieses eng umbaute Fußballstadion. Mit Schmachtenhagen war sie im ersten Jahr ihrer Ehe dagewesen. Wenn er nur hinterher im Bett halb soviel Emotionen an den Tag gelegt hätte wie dort.
Ein Platz wie eine große Bratenschüssel, im Süden von Brücken und S-Bahn-Bögen begrenzt, sich nach Norden hin in strahlenförmig abgehenden Straßen verlierend, von einer breiten Trasse in der Mitte durchschnitten. Exotisch bunte Blumenbeete auf den beiden Inselhälften, Bänke, Wege und ein Pissoir. Rechts von ihr in drei, vier S-Bahn-Bögen bergeweise Hochglanzbücher für Maler, Architekten und dergleichen, jenseits der Brücke Lampen und Leuchten.
So krampfhaft sie auch suchte, der Name des Platzes fiel ihr nicht ein, und vor ihren Augen war ein derartiges Flimmern, daß sie die schwarz-weißen Straßenschilder drüben nicht erkennen konnte. Junge Leute huschten vorüber, ganz offenbar Studenten. Also mußte eine Uni in der Nähe sein. Dahlem und FU? Unmöglich. Das war kein Villenvorort hier, und die Strecke sicherlich zu weit. Blieben also nur, so weit konnte sie sich wieder konzentrieren, TU und HdK…
Savignyplatz!
Es war eine unheimliche Erlösung für sie, dies gefunden zu haben. Aber trotz der euphorischen Welle, die sie nun trug, hatte sie Mühe, auf die grüne Mittelinsel zu laufen, und die zehn Meter ebener Straße kamen ihr wie eine steile Rampe im Gebirge vor.
Ja, Savignyplatz, das stimmte; da hinten standen immer die Nutten und warteten auf ihre Freier.
Rentner saßen hier und ließen ihre Hunde kacken, Penner schnarchten mit ihren leeren Wermutflaschen unter der Bank, Yuppies lasen esoterische Journale, Turnschuhfreaks zitty und tip. Sie hatte Mühe, einen freien Platz zu finden.
Als sie sich endlich hinhocken konnte, schloß sie die Augen und kämpfte darum, Halluzinationen und Wirklichkeit wieder voneinander zu trennen, doch das war anfangs so schwer, dies ihr Bild, wie bei einer Wiener Melange den Kaffee und die Milch.
Es stimmte schon, daß Corzelius die Telefonschnur auf dem Flur herausgerissen hatte, um sie am Telefonieren zu hindern, und ebenso war ihr die Flucht aus ihrer Wohnung gelungen; beide Wächter hatten sich nicht wachhalten können. Aber das mit der Polizei… War sie nun dortgewesen oder nicht…? Die Großfahndung nach Yemayá in Gang setzen lassen, die Berliner alle Ausschau halten lassen nach einem Baby, das ganz plötzlich angekommen war, ohne Schwangerschaft und dicken Bauch der Mutter.
Sie sah sich ganz deutlich vor dem Schild der Meldestelle stehen, die Klinke in der Hand. Und dann? War sie drin gewesen?
Nein… Sie war wieder gegangen. Aus Angst, selber verdächtigt zu werden. Insofern stimmte das, was ihr als Drehbuchszene durch den Kopf gegangen war.
Sie hatte in ihrem ersten Film eine Schizophrene gespielt, und sie fragte sich nun, bei diesem Gedanken vor Entsetzen steil hochfahrend, fast schreiend, ob sie nicht eventuell doch… Nein, wie denn! Der Wagen mit Yemayá hat doch vor der Boutique draußen gestanden! Aber wenn du das Kind nun vorher… und dann alles verdrängt hast…!?
Sie sprang auf, rannte über den Damm und dann die Kantstraße hinunter. Bewegung hatte etwas Dämpfendes. Sicherlich, es war alles furchtbar widersprüchlich gewesen. Sie hatte Yemayá ebenso geliebt und vergöttert wie auch als etwas verflucht, das ihr Leben kaputtzumachen drohte.
Wo und wie hatte sie ihr Kind getötet? Im Neuen See ertränkt? Mit einem Kissen erstickt und den kleinen Körper dann unten im Müllcontainer versteckt?
Sie sah sich am Wasserklops sitzen, unter der Gedächtniskirche. War sie also vorher im Tiergarten gewesen, hatte eine einsame Stelle am Wasser gefunden. Dann mit dem leeren Kinderwagen nach Hause – und die Szene vor der Boutique nur für sich selber inszeniert…?
Es schien ihr völlig ausgeschlossen und Sekunden später wieder wahr.
Schuld und Angst und Schmerz erschütterten sie, bauten in ihr derart starke Spannungsfelder auf, daß sie das Gefühl
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