Da hilft nur noch beten
hatte, im nächsten Augenblick in tausend Stücke zerrissen zu werden, und sie stöhnte auf wie in der letzten Phase eines schrecklichen Traums, wenn sich die Hände des Mörders fest um den Hals krampften, wenn beim Auftauchen aus dem Wasser die Luft nicht mehr reichte und das rettende Licht ganz oben immer schwächer wurde, wenn das abstürzende, wenn das brennende Flugzeug haargenau auf einen zugeschossen kam.
Bilder aus Science-fiction-Filmen schossen in ihr auf, und sie sah sich selbst als einen Roboter, sehr menschengleich, der immer mehr außer Kontrolle geriet, dessen Drähte schon glühten und aus dessen Augen Feuerschlangen traten, der jeden Moment durchbrennen mußte.
Da sah sie vor einem kleinen Laden einen Kinderwagen stehen und blickte natürlich hinein.
Yemayá… Mein Gott! Yemayá!
Sie war es, und Jessica griff sich den Wagen, schob ihn vor sich her, rannte mit ihm die Straße entlang. Nach Hause, schnell in die eigene Höhle zurück. Mein Kind; ich hab es wiedergefunden!
Schreie hinter ihr und Autohupen.
Egal. Sie lief und lief.
Bis sie mit dem Kinderwagen das Fahrrad eines jungen Mannes streifte und ihn loslassen mußte, um nicht aufs Pflaster geschleudert zu werden.
Als der Kinderwagen gegen einen Laternenmast prallte und nach einigen Sekunden unentschiedenen Schwankens doch noch umkippte, rollte ein Kind von gut anderthalb Jahren heraus und war ganz offenbar ein Knabe.
Jessica fühlte sich allein auf einer riesengroßen Bühne, soeben vom Bannstrahl eines Zauberers getroffen, wie eingeschmolzen in schwereloses Glas, unfähig zu jeder Bewegung, entsetzt über ihre Tat wie vor allem darüber, daß es ein Junge war, fett wie eine Made, nicht aber ihre Tochter, sah, wie die Verfolger, mehrere Männer und Frauen, immer näherkamen, sie packen wollten, lynchen!
Mit diesem Gedanken raffte sie sich wieder auf, fast schon in Griffweite des Schnellsten, blickte in ein tumbes Teiggesicht mit platzeroten Pickeln, schien bereits verloren, konnte sich aber noch einmal einen kleinen Vorsprung verschaffen, indem sie – nun ist ja doch alles egal! – mitten auf den Fahrdamm lief, die auf vier Spuren heranrasenden Autos nicht achtend, ihre Geschoßbahnen kreuzte, daß die Reifen quietschten und die Hupen dröhnten, sie an Gesäß und Hacken zweimal harte Stöße spürte. Doch sie schaffte es, ohne in die Luft geschleudert, ohne wie ein Hase oder Igel plattgewalzt zu werden.
Es war die Schlüterstraße, die sie dann hinaufrannte, und als sie die S-Bahn-Brücke erreicht hatte, schlug sie einen scharfen Haken nach links, lief die Treppe zum Bahnhof hinauf, hoffte, auf einen gerade abfahrenden Zug springen zu können.
Vom Zoo her nahte auch einer, und sie nutzte ihre letzten Kraftreserven, um ans hintere Ende des Bahnsteigs zu kommen, sah, registrierte, wie sich das breite Nietengesicht des angejahrten Triebwagens um die kleine Kurve an der Einfahrt schlängelte, rubinrot unten, sandgelb darüber, las überm runden Mund der Kupplung ganz genau die Wagennummer 003.
Bremsluft zischte auf, doch noch immer fuhr er schnell, viele Dutzend Tonnen waren nicht so rasch zum Halten zu bringen.
Spring ihm entgegen! Yemayá ist tot, und alles ist aus.
Nein, sie lebt, sie wird dich brauchen!
Da sind doch andere Menschen dafür da…! Ich halt das alles nicht mehr aus, ich will nur Ruhe, Ruhe, nochmals Ruhe…! Sie setzte an zum Sprung.
13.
Tatjana lag schwitzend auf ihm und ließ ihr Becken kreisen, wippen, schaukeln und vibrieren, hatte schon den ersten echten Orgasmus zu verzeichnen gehabt und wild gewimmert und gekeucht und simulierte nun den zweiten, so kunstvoll wie in ihren besten Pornofilmen; doch das alles wollte nichts fruchten: Es kam ihm einfach nicht.
Corzelius hatte sich seit seiner Ankunft in Berlin nichts so sehr gewünscht als eine Nacht in diesem Bett; nun fand er alles schmutzig, widerlich, sie und sich. Sein Pint war lang und hart, doch trotz all ihrer Mühen nichts weiter als ein gefühlloser Stab, dem sich kein Fünkchen Lust entlocken ließ. Bilder jagten unter seinen Augenlidern vorbei, Gedankenfetzen fegten aus seinen Sinnen alles hinweg, was Tatjana auslösen wollte.
… S-Bahnhof Savignyplatz – Jessica will gerade auf die Gleise springen, als sie den Bahnsteig erreichen – Mannhardts Schrei hält sie zurück.
… das Krematorium – Grobi tot mit einer Frau im Sarg – Und Fotos dieser Frau, Chantal genannt, hier in Tatjanas Alben – «Wir sind eng befreundet
Weitere Kostenlose Bücher