Da hilft nur noch beten
Kind gekommen sein sollte. So besoffen konnte doch keiner…
Und so fragte er denn, als sich Vera ihm gegenüber auf einen Stuhl gesetzt hatte, leichthin, ob sie wohl ein Nachbarkind beaufsichtigt habe.
«Nein, nein…» Sie steckte ihr Gesicht in die Schale ihrer Hände. «Ich habe mir schon immer ein Kind gewünscht, ein kleines Wesen zum Streicheln und Knuddeln… Ich habe es schließlich gebraucht wie ein Süchtiger sein Heroin. Da habe ich dann Stimmen gehört, und diese Stimmen haben mir gesagt: ‹Nimm doch Jessicas Baby, sie selber will es ja nicht, haßt es, weil es sie behindert; sie will ja nur Karriere machen. Rette das Kind!› Ja, und als ich dann mein Lithium abgesetzt hatte…» Sie fiel für Sekunden in einen Zustand der Erstarrung, der Mannhardt nach seiner langen Zeit in der Klinik sofort an das Stichwort «Stupor» denken ließ, jenen Zustand, wo sich der Kranke nicht mehr bewegte, durch keinen äußeren Reiz mehr «einzuschalten» war.
Lithium und Stupor, das ließ ihn sofort an eines denken, an Schizophrenie. In einem ihrer Schübe hatte sie also Yemayá aus dem Wagen genommen, sich wahrscheinlich ganz als deren wahre Mutter gefühlt und sich den Vater und alles andere dann hinzugedichtet, hier zu Hause glückliche Mutter/trautes Heim gespielt. Ähnliche Fälle kannte er von Bad Brammermoor her.
«Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen», sagte er und überlegte schon, welche der Berliner Kliniken für einen solchen Fall in Frage kamen, wo man ihr am besten helfen würde.
Da sprach sie weiter, stimmlos-mechanisch, als wäre in ihr ein Tonband angeschaltet worden.
«Ich werde mich bei Jessica noch entschuldigen… Es tut mir alles furchtbar leid… Aber meine Krankheit, die… Wie geht es denn dem Kind? Wie geht es Jessica? Haben beide alles überstanden, ohne daß sie…»
Mannhardt war mehr als verblüfft. «Ich muß doch die Kleine erst noch mitnehmen…!»
«Sie muß doch schon längst wieder da sein!»
«Wieso denn das…!?»
«Na, weil Jessica doch hier gewesen ist und Yemayá mitgenommen hat…»
«Jessica!?» Mannhardt war unwillkürlich aufgesprungen.
«Ja, Jessica! Sie muß mit diesem Corzelius hier gewesen sein, als ich mittags einkaufen war. Bei mir eingebrochen sind sie… Am Schloß ist der Zylinder rausgebrochen; ich hab das nur notdürftig… bis der Schlosser nachher kommt, und da haben sie das Baby wieder mitgenommen.»
Sie sagte das, wie Mannhardt fand, so uninteressiert-abwesend, als würde sie vom Verlust eines Markstückes sprechen, erinnerte ihn beinahe an ein autistisches Kind.
«Nun, das…» Er war derart durcheinander, daß er das Gefühl hatte, jeder weitere Gedanke müßte seinen Kopf zerreißen, und über die Fensterscheiben huschten kolonnenweise rote Zahlen hinweg: 888888888888888888888… Wie bei seinem alten Taschenrechner, wenn die Batterien leer geworden waren und der Speicher nichts mehr fassen konnte.
Wie war Jessica auf Vera gekommen?
Warum hatten sie ihm, ausgerechnet ihm, nichts davon gesagt?
Wozu das ganze Theater mit dem Anruf, mit dem Film, mit der Suche von der Hochbahn aus?
War denn Jessica auch verrückt geworden im wahrsten Sinne des Wortes, von der realen in eine Scheinwelt hinüber, in zwei Wesen zerbrochen, wie Vera hier, von dem das eine nicht mehr wußte, was das andere tat?
Oder alles nur der großen Publicity wegen, alles selbstinszeniert?
Nein und abermals nein! Und dennoch war das «Unmöglich…!», das er schließlich hervorzubringen vermochte, eher schwach, denn zugleich erfüllte ihn mit einer Art Hintergrundsrauschen der stereotype Spruch Unmöglich ist nichts!
«Jessica hat mir auch noch einen kleinen Brief geschrieben…» sagte Vera, kaum noch zu verstehen mit ihrer leisen und synthetischen Stimme, und reichte ihm mit ersterbender Motorik ein geriffeltes Büttenkärtchen herüber, geschmückt mit einem osterbunten Blumenstrauß.
«Danke…»
Der Text war kurz:
Liebe Vera, wir waren uns heute sicher, daß nur Du – so wie Du bei Deinem letzten Besuch das Kind immer angestarrt hast! – Yemayá aus dem Kinderwagen gestohlen haben konntest. Nun haben wir uns unser Kind ebenso geräuschlos zurückgeholt. Wir wissen, wie krank Du bist, und werden aus Mitleid mit Dir kein Wort über alles verlieren. Schweige auch Du. Jessica
«Nun, ist das ihre Handschrift oder nicht?»
Was sollte Mannhardt anderes antworten als: «Ja, das ist sie wohl…»
19.
Tatjana stand auf der schmalen Damentoilette
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