Da muss man durch
von irgendwelchen Umständen abschrecken lässt, dann ist das nur Feigheit», fährt Audrey fort. «Das weiß ich
aus Erfahrung.»
|82| Ich merke auf. Sieht so aus, als sei ihr der letzte Satz rausgerutscht, denn sie beißt sich auf die Unterlippe.
«Soso, aus Erfahrung», sage ich und warte. Wenn Audrey mir schon intime Geständnisse entlockt, dann kann sie auch selbst
mal aus dem Nähkästchen plaudern. Also sehe ich sie weiterhin erwartungsvoll an.
«Okay», sagt Audrey. «Ich liebe einen verheirateten Mann.»
«Sieh an!», sage ich, und meine Laune bessert sich.
«Er heißt Shawn, kommt aus Irland und lebt in New York. Er arbeitet als Kriegsfotograf, und wenn die Chance besteht, dass
wir uns irgendwo auf der Welt sehen können, dann tun wir es.»
«Schöne Geschichte», sage ich. «Und? Liebt er dich?»
«Ja. Ich glaube, er liebt mich sogar sehr. Trotzdem schafft er es nicht, seine Frau zu verlassen.»
«Das heißt also, ihr lebt nicht zusammen. Wo ist dann der Unterschied zu Iris und mir?»
Audrey sieht mich an, als würde ich gerade auf der Leitung stehen. «Shawn weiß, dass ich ihn liebe. Und er weiß auch, dass
ich nicht ewig auf ihn warten werde. Also muss er sich irgendwann entscheiden. Oder er muss damit alt werden, dass ihm vielleicht
die Liebe seines Lebens durch die Lappen gegangen ist.»
Kein schlechter Ansatz. Wenn ich weiter nur für Iris schwärme, ohne ihr zu sagen, was ich für sie fühle, werde ich nie
erfahren, ob aus uns ein Paar werden könnte, allen widrigen Umständen zum Trotz. Audrey liegt auch richtig damit, dass
ich mich Iris aus Feigheit nicht offenbare. Ich habe einfach Angst, sie könnte mir sagen, dass sie mit Timothy glücklich
ist und die Ehe mit ihm nie in Zweifel gezogen hat.
|83| Audrey errät meine Gedanken. «Wenn sie dich nicht will, ändert sich kaum was. Weniger als jetzt könnt ihr danach auch nicht
zusammen sein.»
Ich sehe Audrey an und muss grinsen. Hätte ich nicht gedacht, dass mir heute Abend eine Vierundzwanzigjährige mal eben die
Welt erklärt.
Sie sieht, dass ich belustigt bin. «Was?»
«Danke», sage ich aufrichtig.
[ Navigation ]
|84| Lassen wir es so
Ich habe lange und tief geschlafen, fühle mich gut erholt und lasse mir Zeit damit, in den Tag zu starten. Mein Gefühl sagt
mir, dass ich Schamski anrufen sollte, um ihn zu bitten, in einem dezenten Mietwagen und in dezenter Garderobe zu erscheinen.
Er muss ja nicht denselben Fehler wie ich machen und gleich mit seinem ersten Auftritt Minuspunkte sammeln. Während ich am
offenen Fenster stehe und im Adressbuch meines Handys nach Schamskis Nummer suche, höre ich in nicht allzu großer Entfernung
das Geräusch eines Sportwagens, der durch die Serpentinen gepeitscht wird. Ich lasse mein Handy wieder sinken. Das nahende
Gefährt klingt alles andere als dezent. Den Anruf kann ich mir also offenbar sparen.
Ein paar Minuten später rollt ein roter Ferrari auf den Vorplatz des Anwesens. Schamski steigt aus. Er trägt Sonnenbrille,
Basecap, ein Hawaiihemd und kurze Hosen. Keine Ahnung, ob er absichtlich wie Thomas Magnum herumläuft, jedenfalls hat sich
mein Hinweis auf zurückhaltende Garderobe damit auch erledigt.
Schamski sieht mich am Fenster und winkt lässig hoch. Gerade will ich ihm bedeuten, dass er kurz warten soll, da erscheint
Melissa, um den neuen Gast zu begrüßen.
«Sie müssen Mr. Schamski sein», höre ich sie sagen und sehe, wie sie sich bei ihm einhakt und ihn zum Haus geleitet. |85| Ich kann mir also wohl noch etwas Zeit lassen, denn Schamski dürfte nun erst mal in den Genuss einer Führung über das Anwesen
kommen.
Meine Vermutung ist richtig. Schamski und ich sehen uns erst kurz vor der Sitzung. Inzwischen hat er sich umgezogen und trägt
wie ich einen Anzug ohne Krawatte.
«Wie ist unsere Taktik?», raunt er mir zu, als wir das Sitzungszimmer betreten.
«Wir haben keine», raune ich zurück.
Schamski nickt zufrieden.
Wie am Tag zuvor sind Karl, Konstantin und Timothy anwesend. Gerade will Konstantin eröffnen, da klopft es. Melissa erscheint.
Sie möchte der Sitzung beiwohnen, was ihr Bruder mit leichtem Befremden zur Kenntnis nimmt. Melissa lässt sich nicht beirren.
«Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Außerdem möchte ich sicherstellen, dass die Sitzung nicht zu lange dauert, weil
Mr. Schamski mir über Mittag eine Bootstour versprochen hat.» Sie lächelt Schamski zu, und der lächelt zurück.
Konstantin
Weitere Kostenlose Bücher