Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

er ihr am nächsten ist. Dann rappelt sie sich auf und tritt hinüber an die Spüle. Das Glas ist leer. Sie wäscht es ab und stellt es anschließend in das Abtropfgestell neben dem Herd. Über der Heizung hängt ein Geschirrtuch, sie greift danach.
    Sie trocknet ihre Hände.
    Ihre unsichtbaren Tränen.
    Und die davonfließende Zeit.

    Sie geht zurück in das Zimmer von Josh, das jetzt auch ihr Zimmer ist. Josh. Sie flüstert lautlos seinen Namen. Er ist ihr Cousin, aber sie hat ihn noch nie gesehen. Auch der Onkel, der sie vor wenigen Stunden abgeholt und in dieses Zuhause gebracht hat, ist ihr fremd. Sie weiß nicht, warum er sie aufgenommen hat. Er hatte keinen Kontakt zu ihrem Vater, der sein Bruder war, denn sie waren zerstritten, seit vielen Jahren schon. Aber andere Familienangehörige hat sie nicht. Das Jugendamt hat den Onkel ausfindig gemacht, und er hat eingewilligt, sie zu sich zu nehmen, obwohl es offensichtlich ist, dass er nichts mit ihr zu tun haben will.
    Sie sinkt nieder auf den Boden. In den wogenden Wellen, die ihre Gedanken schlagen, obwohl sie sich nicht geschlagen geben möchte. Sie muss weiterkämpfen! Sie ist das schnellste Mädchen in der Stadt am Waldrand, sie kann jedem Schmerz entwischen.
    Sie rennt und rennt.
    Auf und davon.
    Bis zum Waldrand, durch die einsamen Schluchten, vorbei an riesigen Felsen und ehrwürdigen Bäumen, über das dunkelgrüne Gras, über die hellgrünen Wiesen bis hin zu der verborgenen Zauberlichtung und wieder zurück.
    An diesen Ort.
    An dem sie jetzt zu Hause ist.

    Sie legt sich auf das Bett, kriecht unter die Decke, sucht blind nach dem Delphin, findet ihn, hält ihn fest in ihren Armen.
    Und dann. Endlich, endlich.
    Weint sie.
    Bittere Tränen verlieren ihre Fassung. Sie fallen lautlos im Fluss der Vergangenheit, haltlos im See der Gegenwart; und sie versickern achtlos auf den Böden der Zukunft.
    Sie schließt ihre müden Augen.
    Es gibt nichts mehr zu sehen.
    Die klumpige Bettdecke ist schwer, erdrückend liegt sie auf ihrem schwachen Körper und grenzt sie ab, von jeglichem Drumherum.
    Sie fühlt ein Nachbeben.
    Eine Erschütterung, heftig und laut.
    Dann wird es endlich still.
    Und leise. Leise.
    Schläft sie ein.

    Caily Haven. Fünfzehn Jahre alt. Ihre Familie ist vor einer Woche bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen.
    Aber sie.
    Hat überlebt.

7
    J ack Hunt liegt zwischen zwei nackten Frauen auf einem goldenen Himmelbett, in einem mit Samt und Seidenkitsch überfüllten Raum, und raucht seine fünfte Zigarette in Folge. Das Mädchen rechts von ihm ist eingeschlafen. Ihr Name ist Trisha, und sie hat die schönsten Brüste, die Jack je gesehen hat. Das mag etwas heißen, denn Jack hat schon viele schöne Brüste gesehen. Das Mädchen links von ihm heißt Mimi und hat die kleinsten Brüste, die Jack je gesehen hat. Auch das mag etwas heißen, denn normalerweise interessiert sich Jack nur für große Brüste und weibliche Körper. Mimi ist das Gegenteil davon. Sie hat so kleine Brüste, dass sie nie in ihrem Leben auf die Idee gekommen wäre, sich einen BH zu kaufen. Ihr Hintern ist knackig, aber so winzig, dass Jack nur eine Hand braucht, um ihn zu umfassen. Auch der Rest von Mimi ist unscheinbar und zierlich geraten. Mit einer Körpergröße von 1,54 Meter kann sie locker in der Kinderabteilung einkaufen gehen, und wenn sie sich Zöpfe in ihr dunkles Haar bindet, dann geht sie gerade mal als sechzehn durch. Aber Mimi ist einundzwanzig und das liebenswerteste Mädchen, dem Jack je begegnet ist. Sie hat Wangengrübchen, die so herrlich sind, dass Jack sie den ganzen Tag lang einfach nur anstarren könnte, ohne dabei das Gefühl zu haben, irgendetwas zu verpassen. Außerdem ist Mimi der ehrlichste Mensch, dem Jack je begegnet ist. Sie hat ihm von Anfang an ihren richtigen Namen verraten und ihm munter von ihrem Leben erzählt. Am Anfang waren es nur die schönen Augenblicke gewesen, aber nachdem er sie ein paar Mal gebucht hatte, war sie auch mit den hässlichen Details über ihre Vergangenheit herausgerückt. Und so hat Jack erfahren, dass sie jahrelang von ihrem Vater missbraucht wurde, mit sechzehn bereits zweimal abgetrieben hatte und mit siebzehn schließlich von zu Hause abgehauen ist, weil ihre Mutter ihr nicht glauben wollte. Über einige Umwege ist Mimi dann in der Stadt am Waldrand gelandet und in dem kleinen Bordell am Rande des Rotlichtviertels untergeschlüpft. Sie ist nicht glücklich dort, und sie weiß auch nicht, wo ihr Leben