Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Braunhaarige einen Tag zu spät. Die Mütter haben darüber gelacht, und sind Freundinnen geworden. Sie haben im selben Zimmer gewartet, auf dasselbe Glück. Und draußen im Klinikpark waren ihre Männer zusammen spazieren und konnten sich kaum noch gedulden, vor Aufregung und voller Erwartung, auf dasselbe Glück.
    Nun sind ihre Söhne Freunde geworden. Die besten Freunde, die es in der Stadt am Waldrand je gegeben hat. Und vielleicht hatten die beiden gar keine andere Wahl – denn sie haben nebeneinandergelegen, damals, als sie noch ganz winzig waren und ihre Mütter sich einmal die Woche zu einem gemeinsamen Frühstück getroffen haben. Und wenig später dann haben sie ihre ersten Schritte gemeinsam gemacht, auf einer Wiese im Abenteuerpark, dort, ganz in der Nähe von dem Spielplatz, auf dem sie schließlich auch das erste Mal zusammen gerutscht sind und auf dem sie nun die Welt erobern.

    Zwei kleine Jungen. Sie heißen Alex und Max, und sie lieben sich auf eine Art, wie nur Kinder sich lieben können. Ohne Zweifel, ohne Hintergedanken, ohne verbogene Wahrheiten, ohne geradlinige Schranken.
    Alex und Max.
    Blutsbrüder auf Lebenszeit.
    Freunde für immer.
    Es ist ein in Sand geschriebenes Gesetz, dass sie auf dieselbe Schule gehen werden, dieselben Fächer belegen, zur gleichen Zeit ihre erste Freundin haben, gemeinsam auf ihre erste Party gehen, zum ersten Mal rauchen, zum ersten Mal lieben.
    Sie werden am selben Tag ihren Abschluss machen. Sie werden gemeinsam die Stadt am Waldrand verlassen, um am anderen Ende der Welt an derselben Universität dasselbe Fach zu studieren. Kurz darauf werden sie beide ihre zukünftigen Frauen kennenlernen. Sie werden heiraten, am selben Tag, im Sommer, weil sie beide den Sommer am liebsten mögen. Wenig später werden sie Kinder kriegen. Jeder einen Sohn, in derselben Woche, im selben Jahr.
    So haben sie es beschlossen. Vor wenigen Minuten, als sie ihr Piratenschiff verteidigt und ihre Mütter ihnen lachend von der Bank am Spielplatzrand applaudiert haben.
    Ja. So haben sie es sich zugeflüstert. Mit ihren aufgeweckten Stimmen und ihren unbändigen Träumen.
    So haben sie es besiegelt. Mit ihrem Versprechen an die Zukunft und ihrem Glauben an die Gegenwart.
    Alex und Max.
    Die besten Freunde in der Stadt am Waldrand.
    Und während sie nun auf dem sandigen Boden liegen und sich anstrahlen, weil der Himmel über ihnen wolkenlos und märchenbuchblau ist, schmieden sie schon ihre geheimen Abenteuer für den nächsten aufregenden Tag.

    Zwei kleine Jungen auf dem Spielplatz am Schlosspark, umgeben von Sand und so viel Meer. Sie wissen nicht, dass einer von ihnen wenige Stunden später von einem betrunkenen Autofahrer überfahren werden wird. Sie wissen nicht, dass dies ihre letzten gemeinsamen Stunden sind. Sie haben keine Ahnung von der tödlich wispernden Zeit im Hintergrund.
    Von den tickenden Sekunden.
    Den lauernden Minuten.
    Und dem unberechenbaren.
    Ende.

9
    A na Davis. Fünfzehn Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern in einem riesengroßen Herrenhaus. Aber ihre Eltern sind so gut wie nie da. Ihre Mutter ist auf Teepartys, bei Vernissagen, im Kurhotel oder bei der Kosmetikerin. Ihr Vater arbeitet für den Geheimdienst und ist nur einmal im Monat zum Abendessen zu Hause. Er ist meistens auf Reisen, aber er sagt nie, wohin. Ana hat längst aufgehört zu fragen. Sie ist eine brave Tochter. Kein Alkohol, keine Drogen, kein Punkrockfreund mit Tattoos und Zungenpiercing. Wenn Ana nicht in der Schule ist, lernt sie für ihre Prüfungen oder spielt Klavier. Sie hat kaum Freunde, weil sie zu still ist und nicht weiß, worüber sie sich mit ihren Altersgenossen unterhalten soll. Die meisten Gespräche fühlen sich befremdlich für sie an, denn Ana interessiert sich weder für Partys noch für die Desperate Housewives. Der einzige richtige Freund, den sie hat, wohnt im Nachbarhaus. Er ist ein renommierter Wissenschaftler der Zeitlehre und wandert oft im Garten umher. Zwischendurch bleibt er stehen, um den Himmel, die Sonne, die Wolken oder die Sterne anzuschauen. Als Ana noch klein war, hat sie ihn heimlich dabei beobachtet. Sie hat durch die Hecke gespäht und sich gefragt, wie jemand so geduldig und so zeitlos einfach nur dastehen und die Unendlichkeit angucken kann. Sie hat sich nicht getraut zu fragen. Aber eines Tages hat der Wissenschaftler seinen Blick vom Himmel genommen und ist hinüber zu dem hölzernen Gartenzaun gekommen. Dann hat er sich zu der Hecke hinuntergebeugt,