Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
möchte, weil das bedeuten würde, dass er sich um Scheidungsunterlagen kümmern müsste. Das wiederum würde bedeuten, dass es einen Sorgerechtsstreit um die beiden Kinder geben würde. Und das Letzte, was Jack Hunt möchte, ist, dass seine Kinder den gleichen Scheidungskrieg miterleben wie er. Also hat Jack Hunt beschlossen, noch so lange durchzuhalten, bis seine Kinder erwachsen sind. Dann will er sich endlich scheiden lassen und in eine andere Stadt umziehen. Und wenn Mimi sich bis dahin noch nicht in einen dahergelaufenen Jungen verliebt hat, und wenn es sie nicht stört, mit einem alten Mann wie ihm zusammen zu sein, dann wird er sie mitnehmen – auch wenn er niemals mit ihr schlafen kann und sie nur bei ihm ist, weil sie bei keinem anderen sein möchte.
Mimi streicht Jack Hunt über sein müdes Gesicht. Sie mag diesen Mann aufrichtig. Er ist der erste, der sich je um sie gesorgt hat. Sie weiß, dass er alt genug ist, um ihr Vater zu sein, wahrscheinlich sogar älter – aber das stört sie nicht. Sie ist traurig, weil Jack Hunt so unglücklich ist mit seiner Familie, und weil er so hart arbeitet, um die Fälle mit den verschwundenen Frauen aufzudecken, aber trotzdem nicht weiterkommt.
Immer wieder verschwinden neue Mädchen.
Immer wieder verliert sich jede Spur.
Und die Zeit?
Sie läuft einfach weiter.
Großzügig über die Blutbahnen hinweg.
Achtlos an den Leichen vorbei.
Jack streicht über Mimis Haar und spürt, wie die Gedanken in ihrem ungreifbaren Kopf umherwandern, dann fasst er wieder nach Mimis Hand und wundert sich darüber, wie eiskalt ihre kleinen Finger immer sind. Dabei ist Mimis Herz doch so warm, dass er es selbst aus der Distanz noch ganz deutlich spüren kann.
Jack Hunt und Mimi das Bordellmädchen. Die beiden liegen auf dem rosafarbenen Himmelbett im Eckzimmer und lauschen Trishas ruhigem Atem, bis es für Jack an der Zeit ist, zu gehen. Er gibt Mimi einen Kuss auf die Stirn und umarmt sie; er verspricht ihr, dass er bald wieder vorbeikommen wird.
Sie nickt und lächelt ihm zu.
Jack Hunt greift nach seinem Mantel.
»Du kannst mich immer anrufen«, sagt er leise. »Wenn du Hilfe brauchst, dann möchte ich für dich da sein.«
Mimi nickt erneut und zwinkert ihm zu.
Vielleicht würde sie Jack Hunt wirklich anrufen, falls sie eines Tages in Schwierigkeiten geraten sollte. Aber vielleicht wäre es auch dumm, einem Mann zu vertrauen, nach all dem, was Männer ihr angetan haben. Mimi wiegt nachdenklich ihre schweren Erinnerungen gegen ihren leichtherzigen Glauben an das Fundament der Menschlichkeit ab.
Es ist ein Hin und Her.
Von Werten und Wertlosigkeiten.
Es ist ein Maß, das sich anmaßt.
Niemals im Stillstand zu verweilen.
Jack Hunt lässt seine Hände in die Taschen seines schwarzen Mantels gleiten. Er sieht aus wie James Bond. Mimi begleitet ihn zur Tür und umarmt ihn noch einmal zum Abschied.
»Du wirst diese Fälle lösen«, flüstert sie ihm zu.
Jack Hunt erwidert nichts darauf, er vergräbt einfach nur sein Gesicht in ihrem wunderschönen Haar, das nach Maiglöckchen duftet und nach taubedecktem Gras.
»Du wirst die Mädchen wiederfinden«, wispert Mimi.
Dann löst sie sich aus der Umarmung.
Und lässt ihn gehen.
Jack Hunt und Mimi, das Bordellmädchen.
Er wird zurück zu den Akten in seinem Keller gehen.
Und sie wird die Nächste sein.
Die verschwindet.
8
Z wei kleine Jungen in einem Sandkasten am Schlosspark. Sie haben gerade Piraten gespielt und tapfer ihr Schiff gegen die namenlosen Feinde verteidigt. Jetzt sind sie erschöpft von der Umsegelung ihrer unendlichen Welten und der Eroberung aller unentdeckten Inseln. Sie lassen sich zurücksinken auf den weichen Sandboden, sie sehen sich an und zwinkern sich verschworen zu – denn sie wissen ganz genau: Sie sind ein ungeschlagenes Team. Sie haben jedes unsichtbare Land bereist, sind auf Flugsauriern durch Nebelschwaden geritten und haben Steinbrocken in Goldfischflossen verwandelt. Sie waren schon überall, am Anfang, am Ende – in jedem Raum, der fällt und besteht.
Ja. Sie können alles.
Alles, was sie wollen.
Denn ihre Phantasie ist allumfassend.
Genau wie die Hand der eingreifenden Zeit.
Die diese Welt durch unser Bewusstsein trägt.
Zwei kleine Jungen in der Stadt am Waldrand. Sie sind beide vier Jahre alt. Der eine hat braunes Haar und dunkle Augen, der andere blondes Haar und helle Augen. Sie sind im selben Krankenhaus auf die Welt gekommen, der Blonde einen Tag zu früh, der
Weitere Kostenlose Bücher