Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
dem sie einmal gewohnt hat. Ihr Vater, ein leidenschaftlicher Journalist, hat seinen Arm um ihre Mutter, eine wunderbare Kunstlehrerin, gelegt. Ihre Schwester steht neben ihr, hält sie fest an der Hand und lacht so laut, dass man das Klicken des Auslösers nicht mehr hören kann.
Zeit kommt zurück. In einer Sekunde.
Ein ganzes Leben.
Und da weiß sie: Relativität hat keinen Wert ohne die relevanten Werte des Bewusstseins. Nichts ist tief genug, um relativ zu sich selbst zu sein.
Sie niest. Staub regnet von der Zimmerdecke auf sie herab. Große grauweiße Flocken tanzen um ihren Verstand. Spinnweben ziehen sich quer durch den Raum. Alles zerfällt. Ihre Eltern verschwinden. Ihre Schwester verschwindet.
Das Haus löst sich in Luft auf.
Nichts bleibt zurück.
Sie schiebt das Foto ganz nach hinten in das Tagebuch, vielleicht vergisst sie es dort irgendwann. Unter der Decke verharrt der kleine Delphin. Er wird sich nie wieder bewegen, er wird für immer in der Stille gefangen sein.
Aber das ist nur ein winziges Detail.
In den grobkörnigen Rissen der Zeit.
Ihr Hals wird immer trockener, ihre Lippen fühlen sich spröde und aufgesprungen an, sie muss schlucken, es tut so weh, dass sie weinen möchte. Aber sie kann nicht.
Sie ist zu stark.
Und zu schwach.
Also greift sie nach der Haar- und der Zahnbürste, schiebt anschließend den zweiten Koffer ebenfalls unter das Bett und geht ins Bad. Es ist nicht schwer zu finden. Die Wohnung ist klein und unverwinkelt.
Der Wasserhahn lässt sich schwer aufdrehen, aber sie schafft es doch. Sie putzt sich ihre Zähne und wäscht sich ihr Gesicht. Das Wasser ist eiskalt, trotzdem steigt eine fiebrige Hitze in ihr auf und lodert hungrig durch ihre längst vergessen geglaubten Gedanken.
Schwarz ist die Asche.
Die übrig bleibt.
An einem verbogenen Haken hängt ein kleines blaues Handtuch, damit trocknet sie ihr Gesicht und ihre zitternden Hände. Ihr Blick fällt auf den Spiegel über dem Waschbecken. Ein unsichtbares Mädchen blickt ihr entgegen. Es ist blass, mit großen schwarzen Augen und hohlen Wangen. Sie wendet sich ab, denn es gibt Dinge, deren Anblick man nicht ertragen kann, ohne einen Schaden davonzutragen.
Und sie ist schon erschöpft genug.
Sie möchte nicht dieses Mädchen sein.
Es ist an der Zeit.
Zeitlos.
Zu lassen.
Sie beginnt, sich das Haar zu kämmen, die monotone Bewegung streichelt ihre Verfassung. Die langen, dunkelblonden Strähnen sind nicht widerspenstig, sie fallen ruhig und geduldig. Und sie erinnert sich: Als sie noch klein war, hat ihre Mutter der Schwester und ihr jeden Abend die Haare gekämmt. Abwechselnd, Strähne um Strähne, während die beiden eng aneinandergeschmiegt auf dem Bett saßen und sich an den Händen hielten, weil sie wussten, dass sie eigentlich eins waren.
Zwillinge.
In jedem Atemzug.
Ihr Hals wird immer trockener, also geht sie in die Küche und durchsucht alle Schränke nach einem Glas. Sie findet eins, nimmt es heraus und macht den Kühlschrank auf. Da stehen Bier, Cola und Mineralwasser. Sie greift nach der Wasserflasche, gießt sich etwas ein und sieht zu, wie das Wasser einen Moment aufschäumt, bevor es sich wieder beruhigt.
Wie menschlich ist dieses Bild.
Wie leicht zu begreifen ist die Welt.
Das denkt sie und wiegt nachdenklich ihren Kopf. Dann schüttelt sie alle Gedanken ab und beginnt zu trinken. Das kühle Glas fühlt sich fremd an, gegen ihre toten Lippen gepresst, das Wasser brennt in ihrem Hals, während sie langsam, Schluck für Schluck, ihren Durst betäubt.
Sie hustet. Sie sieht sich verloren um.
Und schließlich, um die Stille auszuschließen, flüstert sie zu sich selbst: »Sieh nur. Die Zeit stützt sich auf hohle Pfeiler, sie schwankt auf dem seichten Fundament, sie trägt die Nacht und den Tag und jede Sekunde dazwischen, und doch kommt sie nie irgendwo an. Oder doch? Ist sie längst da – ist jede verstreichende Minute der Beweis für die Vollkommenheit dieses wankelmütigen Lebens?«
Sie streicht sich über ihre glühende Stirn.
Das Fieber wird vergehen.
Es ist alles nur ein Traum, ein unbestätigter Traum. Irgendwann wird sie erwachen. Irgendwann wird diese Abgeschiedenheit sich in einen Raum voll mit Freunden und Geborgenheit verwandeln. Irgendwann wird alles leuchten.
So steht es doch geschrieben.
In all den heiligen Büchern.
Über die unheilvolle Zeit.
Ihr Atem geht unregelmäßig, hastig klopft ihr verzweifeltes Herz. Sie lehnt sich gegen den Kühlschrank, weil
Weitere Kostenlose Bücher