Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

hinführen soll, aber die Frauen und Mädchen in dem Bordell sind die einzige Familie, die Mimi hat.
    Jack kann nicht mehr mit Mimi schlafen, seit sie ihm all die schrecklichen Dinge über sich erzählt hat. Sie ist so klein und zerbrechlich, dass er Angst hat, ihr weh zu tun. Am liebsten würde er sie mit nach Hause nehmen, aber er bezweifelt, dass seine Frau sich darüber freuen würde. Also bucht Jack Mimi weiterhin – einfach nur, um sie im Arm zu halten und sich mit ihr zu unterhalten, nicht um ihren Körper für seine Befriedigung zu benutzen. Mimi will sein Geld längst nicht mehr annehmen und sagt jedes Mal, dass er einfach nur das Zimmer bei der Hausdame bezahlen solle. Aber Jack verdient gut und möchte, dass Mimi etwas davon abbekommt, immerhin ist sie der einzige Mensch, dem er von all seinen Sorgen erzählen kann und bei dem er sich geborgen fühlt, in dieser viel zu großen und viel zu lauten Stadt am Waldrand.
    Wenn Jack Lust auf Sex hat, dann bucht er sich ein zweites Mädchen wie Trisha dazu. Anschließend schickt er sie raus und bleibt mit Mimi zurück, um sich an sie zu schmiegen und ihr von seiner Woche zu berichten. Aber an diesem Abend ist Trisha vor Erschöpfung nach einem harten Tag einfach eingeschlafen, und da kein anderer Gast auf sie wartet und es totenstill in dem kleinen Bordell ist, haben Mimi und Jack sie zugedeckt und unterhalten sich nun leise flüsternd über die lückenlosen Abschnitte der vorbeirasenden Zeit.

    Jack Hunt. Eigentlich ist er kein Bordellgänger, aber irgendwann hat er damit angefangen und nicht mehr aufgehört. Also ist er wahrscheinlich doch einer. Aber das ist keine Frage, über die sich Jack seinen Kopf zerbricht – dafür hat er viel zu wenig Gehirnfreiraum, denn seine Gedanken sind allesamt besetzt von den ungelösten Vermisstenfällen, die sich aktenweise in seinem Keller stapeln und allmählich beginnen zu verstauben. Seit über vierzig Jahren verschwinden in der Stadt am Waldrand nun schon regelmäßig Frauen und Mädchen im Alter von dreizehn bis dreißig Jahren. Jack war noch in der Grundschule, als es angefangen hat. Damals verschwand seine Nachhilfelehrerin, ein siebzehnjähriges Mädchen, das ihm dabei geholfen hatte, das Einmaleins auswendig zu lernen. Er hatte sie gemocht, so sehr gemocht, dass er freiwillig das verhasste Mathebuch aufgeschlagen hatte. Der Tag, an dem sie schließlich verschwunden ist, war der Tag gewesen, an dem Jack beschlossen hatte, Polizist zu werden und alle verschwundenen Frauen wiederzufinden.
    Wie sich wenige Jahre später herausstellte, war es nicht sonderlich schwierig für Jack, die Ausbildung zum Kriminalpolizisten zu absolvieren, was sich allerdings als wesentlich komplizierter erwies, war das Unterfangen, die verschwundenen Mädchen und Frauen der Stadt am Waldrand wiederzufinden.

    Jack seufzt. Gerade erst ist eine weitere Frau verschwunden, mitten am Tag, wie vom Erdboden verschluckt, nur ihr Einkaufskorb ist bisher wieder aufgetaucht. Jack seufzt ein weiteres Mal und versucht die Gedanken an die vermissten Frauen abzuschütteln. Neben ihm liegt eine schlafende Trisha, die sich leise murmelnd zwischen zwei Kissen vergräbt, und auf der anderen Seite von ihm liegt Mimi, die ihre winzigen kühlen Finger in seine verschlungen hat. Einen Moment lang ist er wütend auf sich selbst, weil er hier ist, an diesem bedenklichen Ort, an dem er gar nicht sein dürfte. Zu Hause wartet seine Frau auf ihn. Aber er möchte nicht zu ihr gehen, denn die einzigen Gespräche, die man mit ihr führen kann, drehen sich um ihre Arbeit.
    Manchmal, wenn Jack Mimi im Bordell besuchen geht, dann erinnert er sich daran, wie verliebt er einmal gewesen ist, damals, ganz am Anfang, als er seine Frau zum ersten Mal gesehen und sie für das wunderbarste Wesen auf der Welt gehalten hat. Dabei hat sie ihn nur um ihren eiskalten Finger gewickelt, als wäre er das Trostpflaster für ihre gerade abgewickelte Scheidung.
    Jack Hunt liebt seine Frau längst nicht mehr. Er erinnert sich nur noch entfernt daran, warum er sie überhaupt geheiratet hat. Dafür weiß er mittlerweile umso besser, warum sie ihn geheiratet hat – wegen seiner Stellung in der Stadt am Waldrand und wegen all der Vorzüge, die es mit sich bringt, wenn man mit einem angesehenen Mann wie Jack Hunt verheiratet ist. So hat sie es ihm jedenfalls eines Tages an den Kopf geworfen, und seitdem ist die Ehe von Jack Hunt und seiner Frau ein ziemlicher Witz, über den er nicht lachen