Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
kleine König sah nachdenklich zu seinem weisen Vater auf. Und weil die Mutter des kleinen Königs die Unsicherheit in seinen Augen umherschwimmen sah, setzte sie sich neben ihn auf den Fußboden, schob die Legoeisenbahn und die gelbe Plüschente beiseite und sprach zu ihrem Sohn: »Du bist als König der Zeitlosigkeit auf die Welt gekommen. Für dich sind die Gesetze der Realität nur fremde Muster einer Abhängigkeit, an der du niemals hängen wirst. Deine Tage werden immer länger oder kürzer dauern als die eines jeden anderen. Dein Lächeln wird stets weiter reichen als jede Berührung, als jeder Lichtstrahl, als jeder Augenblick. Du wirst Kriege erleben und Frieden und die Zeit dazwischen. Und alles das, was du miterlebst, wird mit dir leben und mit dir sterben, an dem einen endlosen Tag, an dem du den Ort in dir findest, der nur dir ganz alleine gehört. Es werden Frühlingsblumen auf deinem Grab wachsen, du wirst das Rascheln vom Sommergras über dir wachen hören, die Herbstblätter werden dich bedecken, und im Winter dann umfängt dich die ewige Stille der Zeit. Du wirst an uns denken, mein kleiner König, ein letztes Mal. Du wirst uns vermissen, für immer und weiter bis über den Tod hinaus. Und alles, was dann noch geschieht, das kann dir niemand verraten. Niemand. Aber du allein entscheidest, woran du glaubst und wie sehr. Und ob du nun fernab der Realität geboren wurdest, in einem schwarzen Loch, das einst die Splitter der Welt vereinte, oder ob du ein Mensch bist, wie jeder andere auch, oder ob du vielleicht sogar nur ein Hirngespinst bist, von irgendwem, der dich gerade braucht – es spielt keine Rolle. Es ist einfach, wie es ist. Es ist nur dieser Moment, in dem du hier bist. Und solange du da bist, wirst du bleiben. Keine Sekunde länger. Aber auch keine weniger. Also hinterfrag niemals den Grundstein deines Daseins. Denn deine Existenz hast du längst bewiesen – sie bestätigt sich in jedem Augenblick, den du erkennst.«
Da lächelt er auf einmal.
Der kleine König.
Mit dem schwarzen Haar und den schwarzen Augen.
Er schlingt seine dünnen Arme um den Hals seiner klugen Mutter und flüstert: »Danke … danke.«
Er wispert es zweimal.
Und dann noch ein drittes Mal.
Dann steht er auf und flitzt hinüber an sein Zimmerfenster, um einen Blick in den Himmel zu werfen. Eine Wolke fliegt gerade vorbei, der kleine König stellt sich auf seine Zehenspitzen, um sie besser sehen zu können, und während er seinen Kopf etwas neigt, bemerkt er lächelnd, dass sie wie ein Kranich mit weit geöffneten Schwingen aussieht.
»Pass auf, dass du nicht hinausfällst«, sagt der Vater des kleinen Königs.
»Pass auf, dass der aufkommende Sturm dich nicht erwischt«, fügt die Mutter des kleinen Königs hinzu.
Aber noch bevor sie zu Ende gesprochen haben, ist der kleine König auch schon wieder aus dem Spielzimmer verschwunden und zurück auf seiner Weltreise. Aber diesmal ist er nicht unterwegs, um neue Städte und Menschen zu entdecken; diesmal bereist er alle Orte, an denen er schon gewesen ist, und betrachtet die Geschehnisse dort noch einmal aus einem anderen Zeitwinkel. Er fühlt sich nicht mehr einsam, weil er viel zu schnell ist, und er fühlt sich auch nicht mehr ausgeschlossen, weil keiner versteht, warum er ist, wie er ist und nicht anders. Er ist einfach da, in jedem Moment, an dem er teilhaben möchte, und wenn ihn jemand anspricht, dann hat er keine Angst mehr davor, zu erzählen, dass er einfach nur der kleine König aus dem dunklen Loch in der Realität ist. Und wenn die Menschen dann ganz aufgeregt weiterfragen, wie es denn da so ist, an diesem Ort, in dem alles mit Phantasie überfüllt sein muss, dann lächelt der kleine König nur geheimnisvoll und sagt: »Also das – das müsst ihr schon selbst herausfinden.«
»Aber wir sind doch nicht wie du«, erwidern die Menschen dann unsicher. »Wir wissen nicht, wo die Splitter der Realität eine Lücke in die Wahrhaftigkeit der Welt gerissen haben. Wir wissen nicht, wie man diese Gebiete der ewiglichen Zeitlosigkeit betritt.«
»Oh, doch«, sagt der kleine König daraufhin lächelnd. »Jeder Mensch kann diesen Ort betreten. Seht ihr denn nicht den schwarzen Schleier, dort, ganz hinten, versteckt zwischen eurer letzten und vorletzten Erinnerung? Umrandet von Gedanken und Fragen, gehalten von Antworten und Gewissenhaftigkeit. Dort. Könnt auch ihr euch einfinden, wann immer ihr wollt, zu jeder Zeit. Für immer und ewig oder für die Dauer
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