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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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bewerfen, so wie er es einmal mit Felix gemacht hat, als sie sich so lustig und voller Übermut gefühlt hatten, dass sie gar nicht anders konnten.
    Aber Jasons Mutter hat die Moralpredigt über die »Fremden« nicht in einem ermahnenden Ton gesagt, im Gegenteil: Sie hat sich hingekniet, um in Augenhöhe mit Jason zu sein, und dann hat sie ihm mit ihrer sanften Stimme erklärt, warum es für sie so wichtig sei, dass er sich an diese Regeln hält. Und weil Jason verstanden hat, wie sehr seine Mutter ihn liebt, und dass sie deshalb nicht will, dass er von einem Fremden weggeschnappt wird oder zu viel dumme Erwachsene im Fernsehen anguckt, so dass er selbst ganz dumm wird – deshalb hat Jason sich immer darum bemüht, auf sie zu hören.
    Außerdem haben seine Mutter und er sich darauf geeinigt, dass Ernie und Bert und Sponge Bob und Mr. Krabs und Patrick und das A-Team keine Fremden sind.

    Jason lächelt bei dem Gedanken an seine Mutter. Er freut sich auf den Geruch ihres Parfüms, wenn sie ihn hochhebt und er seinen Kopf in ihren Haaren vergraben kann. Er freut sich auf das Geräusch des Schlüssels, wenn sie die Wohnungstür aufschließen wird. Er freut sich auf ihre Stimme, wenn sie bald ruft: »Jason, mein Schatz, ich bin wieder da! Was für ein Abenteuer wollen wir heute jagen?«
    Ja, Jason freut sich so sehr auf diesen Moment, dass er vor Aufregung ein paar Ritter umstößt. Aber das ist nicht so schlimm. Er stellt sie einfach wieder auf und holt anschließend die Pferde aus der Spielkiste, um sie für die wartenden Ritter zu satteln. Auf seinem kleinen Gesicht ruht ein Glanz, wie ihn nur Kinderseelen widerspiegeln können. Seine kurzen braunen Haare stehen fröhlich in alle Himmelsrichtungen ab, unter seinen Fingernägeln kleben Erde und ein bisschen Sand vom Spielplatz. Er war am Morgen mit seiner Oma und Felix im Park. Nur für eine halbe Stunde, weil die Oma schon sehr alt und gebrechlich ist. Aber es war eine schöne halbe Stunde. So schön, dass sie so schnell vergangen ist wie vier oder fünf Minuten, aber sie hat sich trotzdem angefühlt wie hunderttausend Zauberjahre.

    Jason Parker, fünf Jahre alt, der Junge mit den höchsten Burgtürmen und den meisten Rittern in der Stadt am Waldrand. Seine Mutter wird heute nicht vom Einkaufen zurückkommen.
    Denn sie trägt ein weißes Kleid.
    Und weiße Schuhe.
    Und einen Korb.
    Mit Gemüse und Obst.
    Vom Markt.

30
    J ack Hunt liegt schon wieder im Bordell. Doch da Mimi schon seit einer Ewigkeit verschwunden ist, hat er sich ein anderes Mädchen gebucht. Dieses Mädchen sieht Mimi ähnlich, spricht aber kein Wort Deutsch und versteht höchstens ein Viertel von der Hälfte der Dinge, die Jack sagt, weil er nicht alles sagen kann. Aber das stört Jack Hunt nicht wirklich, denn er hat sowieso keine Lust mehr, sich zu unterhalten. Seine Gehirnzellen sind mittlerweile derart überreizt, dass es ihn nicht einmal wundern würde, wenn sein komplettes Sprachzentrum sich in den nächsten Tagen von selbst abschaltet, um zumindest einen Teil seiner Synapsen vor dem drohenden Totalschaden zu retten.
    Ja. Alles, womit sich Jack Hunt noch beschäftigt, sind die verschwundenen Frauen. Sein Kopf tut weh, wenn er morgens aufwacht, und er schmerzt, wenn er am Abend schlafen geht. Er isst kaum noch, er schläft kaum noch, er kennt sämtliche Akten in seinem Keller längst auswendig, und doch macht er keinen nennenswerten Schritt voran. Hinzu kommt auch, dass das einzige Mädchen, das bisher wieder aufgetaucht ist, psychisch so geschädigt war, dass man keine vernünftige Unterhaltung mit ihr führen konnte, ohne sie vorher an einen Stuhl zu ketten, um zu verhindern, dass sie mitten während des Gespräches auf die Idee kam, aus dem Fenster zu springen. Es ist überhaupt ein Wunder, dass sie noch am Leben war, als sie gefunden wurde. Denn als die beiden Passanten die Polizei alarmierten, weil sie ein verstörtes Mädchen am Waldrand gefunden hatten, war das besagte Mädchen gerade dabei, sich die Pulsadern mit einer Glasscherbe aufzuschlitzen. Nachdem sie dann endlich aus einem tagelangen Koma erwacht war, hatte Jack Hunt alles getan, um sie zum Sprechen zu bringen; aber ihre Aussage hatte ihn nicht im Geringsten weitergebracht, denn sie wusste weder, wie sie hieß, noch, wo sie gewesen war, noch, wie ihre Entführer aussahen, und wie sie es geschafft hatte, zu entkommen, konnte sie auch nicht sagen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie gezwungen wurde, kleine weiße Pillen

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