Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
zu schlucken, und dass sie eine Zeitlang im Keller, eine Zeitlang in einem Wohnzimmer und eine noch längere Zeit auf vielen verschiedenen Betten angekettet gewesen ist. Nach ihrer Aussage war sie aus dem Polizeirevier geflüchtet und prompt ein weiteres Mal spurlos verschwunden.
Jack Hunt verstand eine Menge.
Aber das verstand er nicht.
Und da er nicht wusste, dass das Mädchen Alice Clay hieß, und da alle Fahndungen nach ihr vergeblich blieben, ging sie schließlich als ein weiterer ungelöster Fall in seine Akte ein.
Jack Hunt seufzt und dreht sich auf die andere Seite, weg von dem nackten Mädchen, das neben ihm liegt und so aussieht, als wäre sie an jedem Ort lieber als hier neben ihm. Jack fragt sich, ob Mimi auch so unglücklich war im Bordell, und ob er sie hätte fragen sollen, ob sie mit ihm verschwinden möchte. Egal wohin. Hauptsache, weit weg von der Stadt am Waldrand, in der so schreckliche Dinge geschehen.
Aber dafür ist es nun zu spät. Und Jack Hunt zweifelt daran, dass er Mimi jemals wieder irgendetwas wird fragen können. Denn er ist Realist, und er weiß, dass verschwundene Frauen selten von alleine wieder auftauchen.
Das Mädchen neben ihm sagt etwas und reißt ihn aus seinen entführten Gedanken. Er blickt sie fragend an. Sie wiederholt ihre Frage, aber Jack Hunt versteht kein Wort. Trotzdem nickt er, da steht sie auf und verlässt das Zimmer. Kurz darauf kommt sie mit einem Glas Cola und einer Bierflasche wieder. Sie hält Jack Hunt das Bier hin. Er nimmt es entgegen und leert es mit einem Zug, obwohl er normalerweise kein Biertrinker ist. Aber es gab auch mal eine Zeit, da war Jack Hunt kein Bordellgänger.
Wie lange ist das nun schon her?
Lichtjahre. So scheint es.
Zwei Stunden später verlässt Jack Hunt das Bordell und macht sich auf den Heimweg. Unterwegs fährt er an einer Tankstelle vorbei und kauft zwei Kuscheltiere, eins für seinen Sohn und eins für seine Tochter. Der Tankwart hat schlechte Laune. Seit das Off Road um die Ecke nach einer Gasexplosion eingestürzt ist, sind die Abende langweilig geworden. Alle Nachtgestalten, die nicht gestorben sind, gehen in die Clubs weiter im Zentrum.
Da gibt es andere Tankstellen.
Hier kommt kaum noch jemand vorbei.
Jack Hunt verlässt die Tankstelle wieder, steigt zurück in sein Auto und fährt die letzten Meter bis nach Hause. Seine Frau telefoniert mit einer Freundin und sagt ihm nicht einmal hallo, als er die Wohnung betritt. Also geht Jack Hunt ins Badezimmer, putzt sich die Zähne, wäscht sich die Hände, und schleicht anschließend auf Zehenspitzen in die beiden Kinderzimmer, um den Plüschhasen und die Plüschfledermaus neben seinem schlafenden Nachwuchs zu plazieren.
Fünf Minuten später liegt Jack Hunt auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Er lässt sich benebeln, von irgendeinem nervigen Moderator, der sich mit irgendeinem nervigen Schauspieler über irgendeinen nervigen Sänger lustig macht, der ein nerviges Lied über den nervigen Staat geschrieben hat und gerade ein nerviges It-Girl vögelt.
Jack Hunt wird so schlecht, dass er den Fernseher wieder ausschaltet und seinen Kopf zur Decke dreht. Die Lampe über ihm ist gedimmt und sieht aus wie der erblasste Mond hinter einer nebligen Wolke.
Jack Hunt schließt seine Augen.
Dann öffnet er seine Augen wieder.
Das macht er eine halbe Stunde lang.
Dann schläft er endlich ein.
Am nächsten Morgen wacht er auf, und sein Kopf tut noch mehr weh als je zuvor. Einen flüchtigen Moment lang denkt er darüber nach, sich zu erschießen. Aber dann fallen ihm seine Kinder ein, und er reißt sich zusammen.
Und schließlich.
Nach all den Jahren.
Nach all den vermissten Frauen.
Wird endlich der Sommer kommen, in dem zwei kleine Kinder die Leiche eines Mädchens im Schlosspark entdecken werden. Die Polizei wird feststellen, dass sie an einer Überdosis der Vergewaltigungsdroge gestorben ist, die von den unbekannten Hintermännern des Mädchenhandel-Rings verbreitet wird. Und am Morgen des darauffolgenden Tages wird Jack Hunt einen Brief erhalten, von ebendiesem Mädchen.
Sehr geehrter Herr Hunt,
ich schreibe Ihnen diesen Brief, weil ich weiß, dass Sie seit Jahren die Ermittlungen wegen der verschwundenen Mädchen leiten, und weil ich ein Geheimnis habe, das der Schlüssel für Ihre Suche ist.
Meine Geschichte ist so umfangreich, dass sie nicht einmal annähernd in diesen Brief passt – aber das muss sie auch gar nicht. Denn es geht weder um mich
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