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Dabei und doch nicht mittendrin

Dabei und doch nicht mittendrin

Titel: Dabei und doch nicht mittendrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haci-Halil Uslucan
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»Zwischen-zwei-Stühlen-Sitzen« umschrieben, manchmal auch dramatisierend als »zerrissen zwischen zwei Welten« tituliert. Als wesentliche Ursachen dieses Konflikts gelten einander entgegenstehende Einflüsse der Familie und der Institution Schule beziehungsweise der Mehrheitsgesellschaft, die die Kinder und Jugendlichen irritierten.
    Doch neben dieser rein defizitorientierten Betrachtung bleibt die Unterstellung des Kulturkonflikts auch aus anderen Gründen höchst unbefriedigend, weil die angeführten Ursachen derProbleme von Migrantenkindern einseitig mit dem Kulturwechsel und den damit zusammenhängenden Prozessen verknüpft werden, jedoch die sozialen Lebensbedingungen weitestgehend aus dem Blickfeld rücken. So werden etwa Identitätsstörungen, Verunsicherungen des Selbst (Verstehe ich mich schon als Deutscher, noch als Türke, bin ich von beidem ein wenig, sehe ich mich jenseits kultureller Bindungen? Was soll ich lernen oder studieren? Wie ist ein »guter Mann«, eine »gute Frau?«) bei Migranten häufig auf diese kulturelle Zwitterposition heruntergebrochen. Ausgeblendet wird, dass möglicherweise auch deutsche Jugendliche angesichts einer sich für sie äußerst rasant verändernden Welt ähnliche Suchbewegungen zeigen und uneindeutige, unverbindliche Selbstentwürfe haben.
    Und statt diese nur als Belastung und Überforderung zu sehen, kann dieses Sich-nicht-Festlegen, das Changieren, durchaus als eine angemessene Antwort auf gegenwärtige Anforderungen sein, wie sie etwa in den Arbeiten des Psychologen James E. Marcia skizziert wird. 31 Marcia spricht von einer kulturell adaptiven Form der Identitätsdiffusion insbesondere in Zeiten rapiden ökonomischen und sozialen Wandels, mit der die Identitätsentwürfe jugendlicher Migranten beschrieben werden können. So kann es angesichts einer ungeklärten Bleibeperspektive ihrer Eltern und ungelöster Fragen der Einbürgerung oder der doppelten Staatsbürgerschaft, also immer dort, wo gesellschaftliche Bedingungen Unverbindlichkeit und Indifferenz nahelegen, im Einzelfall adaptiv sein, sich in seiner ethnischen Identität und Zugehörigkeit nicht festzulegen und sich verschiedene Optionen offenzuhalten.
    Zweifellos ist der Bezug zu zwei unterschiedlichen Kulturen ein wichtiger Aspekt der spezifischen Situation von Migranten; Kulturkonflikt-Konzepte werden jedoch reduktionistisch, wenn »Kulturwechsel« nur als eine Entwicklungseinschränkung des Individuums betrachtet und nicht zugleich gesehen wird, dass ein einseitiger Bezug auf die eigenen kulturellen Hintergründein der Migrationssituation sowohl entwicklungshemmende als auch -begünstigende Seiten hat. 32
    Der Rückgriff auf kulturelle Erklärungen kann in der alltäglichen Begegnung sowohl zu »falsch positiven« wie auch zu »falsch negativen« Beurteilungen führen: Das gezeigte (individuelle) Verhalten von Migranten kann zu Unrecht als kulturelle Norm gedeutet werden (»So ist das halt bei den Türken«). Oder es wird – bei Kenntnis kultureller Normen in spezifischen Situationen – erwartet, dass sich die Individuen in ihrem Handeln stets auch normkonform verhalten werden.
    Stillschweigend wird hier eine Homogenität der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Leitwerte sowie eine Einheitlichkeit der Minderheiten und ihrer familialen Orientierungen unterstellt, die so jedoch kaum gegeben ist. Tatsächlich ist die Heterogenität und Varianz innerhalb von Migrantenfamilien zum Teil deutlich stärker als die Unterschiedlichkeit unter Einheimischen, wie sich exemplarisch an einer jüngeren Studie über Werteveränderung in der Türkei ablesen lässt: Yasemin El-Menouar und Martin Fritz haben in elf Regionen der Türkei die sozioökonomischen Entwicklungen und Wertvorstellungen analysiert und zeigen, dass beispielsweise der Alphabetisierungsgrad im Südosten gerade mal 68 Prozent beträgt (etwa in Sanliurfa), in Istanbul und Ankara hingegen 93 Prozent. In Ostanatolien bringt eine Frau durchschnittlich sechs Kinder zur Welt, in Istanbul weniger als zwei (1,93). 33 Ebenso große Differenzen zeigen sich auch bei der Einkommensverteilung und dem Urbanisierungsgrad der Regionen.
    Um die türkischen Migranten besser zu verstehen, ist es deshalb höchst wichtig zu wissen, aus welcher Region sie kommen.
    Zudem unterschlägt die kulturalistische Deutung die Eigenmächtigkeit der Subjekte, die sich prinzipiell auch entgegen kultureller Vorgaben orientieren und kulturelle Skripte »gegen den Strich

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