Dabei und doch nicht mittendrin
zu haben:
– Einreisealter (eine frühere Einreise geht in der Regel wie oben beschrieben mit besseren sprachlichen Kompetenzen einher; in den Kinderjahren sind zudem die Gelegenheiten zu Interaktion und Freundschaften mit Einheimischen – über Kindertagesstätte und Schule – eher gegeben)
– Verweildauer in Deutschland (Wie lange leben Eltern und Kind schon in Deutschland?)
– Rückkehrabsichten der Eltern (Wie sehr wollen oder können Eltern Bildungspläne des Kindes unterstützen, wenn sie demnächst zurückkehren wollen oder müssen, weil ihr Aufenthalt unsicher ist?)
– Wie vertraut sind Eltern mit dem hiesigen Bildungssystem und welche bildungsrelevanten Ressourcen bringen sie aus ihren Herkunftsländern mit?
– Wie ist das Wohnumfeld des Kindes? Segregiert oder durchmischt? Lebt das Kind in einem Umfeld, in dem es außerhalb der Schule auch Deutsch sprechen kann und in dem es einheimische Interaktionspartner hat?
Die in der politischen Öffentlichkeit gern zitierten kulturalistischen oder religionszentrierten Deutungen greifen hier deutlich zu kurz: Denn die Studien im Bildungsbereich zeigen große Defizite sowohl bei Italienern als auch bei Türkeistämmigen. Das macht die Annahme, die Ursachen des Scheiterns seien in der kulturellen und religiösen Wertedivergenz begründet, hinfällig. Aus einem christlichen Land wie Italien stammende Kinder dürften diese Bildungsdefizite sonst nicht aufweisen.
Zudem führt die unterschiedliche Bildungspolitik in den jeweiligen Bundesländern zu differenten Schulerfolgen: So ist die Chance auf den Besuch einer weiterführenden Schule nachder zehnten Klasse in Nordrhein-Westfalen höher als in Bayern; aber auch die allgemeine Abiturientenrate sowie die Anforderungen in den jeweiligen Bildungsgängen variieren von Bundesland zu Bundesland. Sehr klar ist das beispielsweise für die oben erwähnten geringen Bildungserfolge der italienischen Schüler herausgearbeitet worden: Die meisten italienischen Einwanderer leben in Bayern und Baden-Württemberg; zugleich sind die dortigen Schulen viel stärker segregierend und weniger fördernd als in anderen Bundesländern, sodass das relative Scheitern der italienischen Schüler dort die Gesamtquote der Italiener drückt. Bildungserfolg oder -misserfolg ist also stets auch ein Produkt der jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen, nicht allein ein Merkmal von Migranten.
Ebenso wichtig ist im Bildungskontext die Frage nach den Ressourcen und Widerstandsfaktoren, über die Kinder mit Zuwanderungsgeschichte verfügen, um sich vor und in belasteten Lebensumständen zu schützen. Denn Entwicklungsauffälligkeiten und Pathologien – wie etwa Gewalt und Aggression – sind als ein dynamisches Zusammenspiel von Risiken und den ihnen entgegenstehenden Fähigkeiten zu verstehen. 70
Bedauerlicherweise bleiben Forschungen zu Ressourcen von Migranten nach wie vor ein unerfüllter Wunsch, ebenso wie Studien zu überdurchschnittlich begabten Migranten. Dieses Manko setzt sich in der Praxis fort: So liegt etwa der Anteil von Migrantenkindern in Hochbegabtenförderprogrammen sowohl in angelsächsischen Ländern als auch in Deutschland zwischen vier und neun Prozent – gleichwohl es mittlerweile Konsens ist, dass Hochbegabung in allen Kulturen und Kontexten vorkommt. 71 Kinder mit Migrationshintergrund sind also gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtschülerzahl deutlich unterrepräsentiert. Es liegt nahe, dass die gegenwärtigen ungleichen Hochbegabungskonzepte zu einer ungleichen Selektion und dadurch zu einer Unterrepräsentation von Migranten in hochqualifizierten Positionen führen, da kulturspezifischeBegabungen zu wenig berücksichtigt werden. Denn die Vorstellung, was als besonders gut und begabt gilt, gehorcht bestimmten gesellschaftlichen Vorgaben: Vielfach spiegeln sich darin die Ideale der herrschenden Gruppen (Mittel- und Oberschicht) wider. Migranten in Deutschland rekrutieren sich jedoch überwiegend aus unteren Schichten. Deshalb müsste beispielsweise die Suche nach Hochbegabungen möglichst breit angelegt werden, damit auch andere kulturelle Stärken Relevanz bekommen und eine Chance haben, entdeckt zu werden. Diese Potenziale von Migranten muss die pädagogische Praxis durch geschärfte Wahrnehmung erkennen lernen, so etwa, wenn Kinder trotz ihrer wenig anregenden Lernumwelt gut mitkommen, wenn sie neben der offiziellen Landessprache eine andere Sprache beherrschen, wenn sie mit der Zweisprachigkeit so umgehen,
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