Dabei und doch nicht mittendrin
Kinder nun eine Position einnehmen, die den üblichen Rollenerwartungen entgegengesetzt ist und die zu einer Verminderung elterlicher Autorität sowie zu einer Parentifizierung führt: Kinder erleben sich in der Elternrolle, in der sie oft kognitiv und emotional überfordert sind, wenn sie etwa zu Übersetzungsdiensten herangezogen werden, bei Elternabenden, beim Arzt, oder die behördlichen Angelegenheiten ihrer Eltern verwalten müssen.
Pädagogische wie sozialpolitische Auseinandersetzungen sehen oft eine Gruppe von Türken als besonders problematisch: die Jugendlichen, noch spezifischer, die Jungen. Grob zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Betrachtung der türkischen Mädchen die Mitleid- und Beschützeraffekte weckt (»diese armen, unterdrückten Wesen, denen man zu ihrer Freiheit von ihren grausamen Eltern und Brüdern verhelfen muss«), während der Blick auf die Jungen stets etwas Skandalisierendes hat (mit Zuschreibungen wie »frech«, »gewalttätig«, »aufsässig«, »machohaft«, »leistungsunwillig« und »verloren«).
Geht man einen Schritt zurück und verlässt die normative Sicht auf die Jugendlichen, so ist festzuhalten, dass aus der Perspektive einer die Lebensspanne umgreifenden Psychologie Jugend schon immer einen Schwellenzustand und eine gefährdete Übergangsphase dargestellt hat: Jugend ist die Zeit physischer (Pubertät) und psychischer Umbrüche (aktive Identitätsentwicklung). Jugendliche können einerseits für ihr Handeln den Schutz- und Schonraum des Kindes nicht mehr beanspruchen, sind aber andererseits auch noch nicht voll partizipationsfähig an der Lebenswelt der Erwachsenen. Als Übergangssituation markiert die Jugend eine Phase intensiver Sinnkonstruktionen, die Individuen vor besondere Anforderungen stellt; und auch wenn die Jugend nicht immer als eine Zeit heftiger Krisen erlebt wird, so sind doch Normabweichung, Rebellion und impulsives Verhalten typisch für diesen Lebensabschnitt.
Die Erfahrung sozialer Anomie, das Gefühl, den eigenen Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden zu haben, scheint im Jugendalter am stärksten ausgeprägt zu sein. Die Adoleszenz ist für männliche wie weibliche Jugendliche häufig durch ein Fehlen von sozialer Einbettung, normativer Führung und klaren Verantwortlichkeiten gekennzeichnet. Migrantenjugendliche müssen dabei eine viel kompliziertere und spannungsreichere Balance wahren: Sie müssen die Erwartungshaltungen der (oftmals stärker kollektivistisch eingestellten) Eltern, und zugleich die der (stärker individualistisch orientierten) Mehrheitsgesellschaft (oft im schulischen Umfeld), sowie eigene Wünsche und Vorstellungen vom richtigen Leben vereinbaren.
Verschiedene Studien deuten auf eine stärkere Involvierung von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft, hier insbesondere von Türken, in Gewalthandlungen hin. Gleichzeitig weisen diese aber auch ungünstigere Entwicklungsbedingungen und -belastungen in ihren Familien und in ihrem Alltag auf. 52 Dennoch lassen sich diese Befunde kaum für alle türkischenMigrantenjugendlichen verallgemeinern, weil sie hohen regionalen Schwankungen unterworfen sind.
Gerade für ein angemessenes Verständnis der Mehrbelastung türkischer Jugendlicher durch Gewalt ist auf den recht deutlichen Zusammenhang von Bildungsstand und Gewaltverhalten hinzuweisen. Im gegliederten deutschen Bildungssystem herrschen starke Schwankungen der Gewaltverbreitung je nach Schultyp – deutlich auffälliger sind jene männliche Jugendliche, die die Hauptschule besuchen. 53 Zugleich besucht ein erheblich größerer Anteil türkischer Jugendlicher die Hauptschule. Der besuchte Schultyp ist nicht nur ein Indikator kognitiver Kompetenzen, sondern auch wegweisend für die beruflichen Zukunftsperspektiven. Schüler mit schlechten oder fehlenden Schulabschlüssen realisieren, dass ihre Zukunft eher unplanbar ist und sie weitestgehend der ökonomischen Lage ausgeliefert sind. Diese Resignation kann in Aggression oder in andere normabweichende Verhaltensweisen münden. Bei einer feineren Analyse treten Differenzen nach Bildungsstatus deutlicher hervor als kulturelle oder ethnische Unterschiede. Das heißt: Der türkische Junge mit Hauptschulbesuch steht in seiner Gewaltbelastung, seinem aktiven Gewalthandeln, dem deutschen Jungen mit Hauptschulbesuch viel näher als dem türkischen Jungen aus dem Gymnasium.
In den von Simone Mayer, Urs Fuhrer und mir geführten Untersuchungen in Berlin 2005 konnten wir aber
Weitere Kostenlose Bücher