Dabei und doch nicht mittendrin
Identitätskrise. Moscheen werden zum »Umschlagplatz des Alltagswissens«, was Muslimen bei der praktischen Bewältigung des Alltags hilft, aber auch zu einem Ort, an dem soziale Netze geknüpft werden. Die Zugehörigkeit zur
Umma
ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn der soziale Alltag für Muslime Vorurteile und Ausgrenzungen oder Unterlegenheitsgefühle mit sich bringt. Dann kann eine Reaktion auf die wahrgenommene Bedrohung der Identität in der Steigerung des Selbstwerts, in der positiveren Bewertung der eigenen Gruppe liegen. Ungewöhnlich oder gar islamspezifisch ist das nicht. Schließlich reagieren Menschen generell auf Identitätsbedrohungen mit dem Impuls, Teil eines starken Kollektivs sein zu wollen oder die eigene Gruppe aufzuwerten.
Formen religiöser Überzeugungen können auch im Leben von Risikokindern (und Migrantenkinder sind als solche anzusehen) als ein Schutzfaktor betrachtet werden. 86 Sie geben ihnen das Empfinden der Sinnhaftigkeit und Bedeutung ihres Lebens. Sie können sich in ihrem So-sein prinzipiell angenommen und als wertvolles Geschöpf Gottes fühlen. Aus subjektiver Sicht müssen sie sich nicht erst bewähren, um Anerkennung, Liebe und Beachtung zu bekommen. Die Religiosität von Migrantenkindern in Bildungseinrichtungen ist daher nicht von vornherein argwöhnisch oder irritiert als hinterwäldlerische und archaische Haltung zu registrieren.
Wie sieht die Empirie und nicht das Bauchgefühl der Panikmacher aus, wenn wir uns der religiös bedingten Abweichung in der Schule zuwenden? Die vom BAMF herausgegebene umfassende Studie
Muslimisches Leben in Deutschland
87 dokumentiert, dass sich etwa die Nichtteilnahme aus religiösen Gründen an Schulaktivitäten wie gemeinsamer Sport-, Schwimm-, Sexualkundeunterricht, Schullandheimfahrten bei Werten zwischen0,1 und 1 Prozent bewegt, also marginal ist im Verhältnis zu ihrer öffentlichen Skandalisierung.
Wenn wir aber trotzdem einmal annähmen, es gäbe das Phänomen der Islamisierung oder Re-Islamisierung der deutschen Gesellschaft; wie könnte das – jenseits sporadischer unsystematischer Alltagsbeobachtung – empirisch belegt werden? Konkret: Wie müsste die empirische Datenlage aussehen, um hier einigermaßen fundierte Urteile zu fällen?
Denkbare Argumente sind die folgenden:
Demographisches Argument
: Um eine Islamisierung in den letzten Jahren zu belegen, ließen sich der zahlenmäßige Anstieg der Muslime sowie ihr Anteil an der Bevölkerung heranziehen. So ist zum Beispiel lange Zeit die Zahl der Muslime und folgerichtig auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung unterschätzt worden. Die oben erwähnte BAMF-Studie hat ergeben, dass gegenwärtig zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime in Deutschland leben, rund eine Million mehr als lange Zeit angenommen. Reicht das jedoch für eine Islamisierung? Natürlich spricht eine bloß quantitative Zunahme noch keineswegs für eine Islamisierung der Gesellschaft. Denn zu bedenken ist, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund (auch muslimische Migranten) deutlich jünger und kinderreicher ist als die einheimische und die Zunahme schlicht eine Folge dieses demographischen Anstiegs bedeutet. Gleichzeitig ist eine höhere Mortalität der Einheimischen aufgrund des höheren Anteils in der ältesten Gruppe der Bevölkerung zu verzeichnen. Stärkere gesellschaftliche Präsenz und Wahrnehmung des Islam bedeutet vor diesem Hintergrund zunächst noch keinen (radikalen) Einstellungswandel in der Gesellschaft. Um eine Islamisierung oder Re-Islamisierung methodisch sauber belegen zu können, sind Längsschnittstudien mit einer Kontrollgruppe (muslimische Migranten versus Einheimische, wobei sich unter diesen wiederum keine mit muslimischem Glauben befinden dürften) nötig. Diese müssten darüber hinaus von der Stichprobenzusammensetzung, was Merkmalewie Bildungsstand, Schicht und Geschlecht betrifft, ähnlich angelegt sein. Dabei müsste sich zum einen zeigen, dass die religiösen Orientierungen der Muslime mit der Zeit deutlich stärker ansteigen als die der Kontrollgruppe und es müsste erkennbar sein, dass aus ehemals eher liberalen oder religionsindifferenten Personen mit einem muslimischen familialen Hintergrund allmählich gläubige oder sehr gläubige Personen werden. Und um die eventuelle stärkere Neigung zu Religiosität der (muslimischen) Migrantengruppe nicht als nur migrations- oder minderheitenspezifische Verhaltensweise zu deuten (Konservierungstendenz eigenkultureller
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